Glanz der Herzen

Elternhaus: ... eine Art Weihnachtsgeschichte

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Wir sollten davon ausgehen, dass meine Mutter als Jungfrau in die Ehe trat. So war es Brauch.

Später spricht sie von jugendlichen Verehrern, von ersten Rosen zwischen Kriegsruinen, von einer Jugendliebe. Einen Namen erinnere ich: Meine Mutter erwähnt einen jungen Schauspieler, den der Untergang Berlins in die hessische Provinz verschlagen hat wie sie selbst. Er will auf die große Bühne.

Aber sie erzählt nicht viel.

Danach lernt sie meinen Vater kennen.

Aus den Überlieferungen der buddhistischen Mönche soll der Gedanke entlehnt sein, dass Kinder sich ihre Eltern aussuchen. In meiner Sippe aber lenken die Frauen das Haben und das Sein der Familien, so auch als Hüterin des Genpools...

Der Name des Jugendfreunds begleitet meine Kindheit und die frühe Jugend wie eine fern verwehte Schimäre. Sein offener, fröhlicher Typ wird gern besetzt,.....im Jahrzehnt vor 1960 brilliert er in etwa dreißig Spielfilmen, die im Abendprogramm des Deutschen Fernsehens gelegentlich wiederholt werden, danach bei ein bis zwei Produktionen im Jahr, und er wechselt von den Bühnen Berlins nach München, später nach London.

Einen Besuch verzeichnet die Chronik unseres im norddeutschen Raum wandernden Hausstands, zwei Paare bemühen sich um bürgerliche Konversation zwischen alkoholischen Stimuli unterschiedlicher Potenz. Es bleibt bei einem einzigen Besuch. Sie passt gar nicht zu ihm, stellt meine Mutter fest.

Zum Ende der Schulzeit stehen Bühne und Film auf meiner Orientierungsliste, daneben Konditor und Tischler.... da der Jugendfreund gerade ein Gastspiel in der Stadt absolviert, will meine Mutter gerne ein Treffen für mich initiieren und schickt ihm ein Kärtchen: Nach der Vorstellung warten wir am Bühnenausgang..... fast bis Mitternacht, der Hauptdarsteller nutzt den Ausgang an diesem Abend nicht.

London ist weit. Aber die Regenbogenpresse bleibt wachsam.

Der Jugendfreund erschlägt im Streit seine Frau: Ende einer Schauspielerehe.

Mein Vater kommentiert jede Wiederholung der alten Filme großzügig mit humoristischen Bemerkungen. Meine Mutter teilt den Humor meines Vaters übrigens nicht. Er kann bei Loriot nicht lachen. Meine Mutter und ich dagegen gruseln uns vor Vergnügen hilflos kichernd über die gefährliche Steinlaus: Cartoon!

Viele Jahre vergehen, Loriot zieht in den Olymp der deutschen Klassiker: Loriot’s Dramatische Werke, in Berlin fällt mir irgendwann das Plakat ins Auge..... etwas kleiner darunter der Name des Jugendfreunds in der Liste der Schauspieler, Tournee bundesweit, Termine auch in Berlin.

Weihnachten steht vor der Tür mit der Peinlichkeit, angemessene Geschenke für die Lieben zu finden. Aber wie kann ich nur so unvorsichtig sein, kurzerhand zwei Karten zu bestellen? Trotz ihrer achtzig Jahre ist meine Mutter sofort von der Einladung begeistert und erkundigt sich nach den Abfahrtzeiten der Bahn.... Mein Vater kann nicht mitkommen, er plagt sich bereits seit Monaten mit gesundheitlichen Problemen.

Meine Mutter will den Freund aus Jugendtagen wissen lassen, dass sie in die Vorstellung kommt. Das Theater wird für wechselnde Veranstaltungen genutzt. Also muss ich meiner Mutter die Adresse des Tourneeveranstalters herausgeben, umgehend schreibt sie einen persönlichen Brief zur Weiterleitung: Nach der Vorstellung warten wir am Bühnenausgang..... aber es kommt keine Antwort.

Wir sitzen weit vorne in der dritten Reihe und verfolgen gut aufgelegte, professionelle Spielfreude auf der Bühne (Nudel! Zimmerverwüstung! Jodeldiplom!), der Saal ist ausverkauft bis auf den letzten Platz, das in der Vorweihnachtszeit Harmonie suchende Publikum lacht und klatscht immer an den richtigen Stellen. Kann er uns sehen? Der Blick gegen das Scheinwerferlicht in den schwarzen Zuschauerraum ist wie ein Blick in die Nacht, hört man gelegentlich.....

Wir haben noch keine Antwort.

Anrührend fragil der gealterte Schauspieler in der kalten Zeichnung des Bühnenlichts....... für den nächsten Sketch ist leichteste Bekleidung vorgeschrieben: Es sitzt sich recht kühl, einfach so in der Wanne....

Wir haben keine Antwort.

Der Abend wird ein großer Erfolg für die reisende Theatertruppe, achtmal treten sie vor an den Bühnenrand in den Jubel des Publikums und danken mit artigen Verbeugungen. Unter der Schminke ist die Müdigkeit zu erkennen.

Komm, wir gehen jetzt!

Über den Hof weist man uns zum Bühnenausgang. Es ist kalt, meine Mutter möchte, dass ich sie unterhake. Das Laufen macht ihr Mühe.

Unspektakulär und schlecht beleuchtet, dafür aber bewacht vom Pförtner hinter Glas wirkt der Einlass abweisend, sie fragt: Gibt es einen anderen Ausgang?

Aber er findet sie. Eilt herbei von irgendwo aus der Tiefe des Theaterbaus und begrüßt uns mit ehrlicher Freude. Vier Augen durchdringen ein halbes Jahrhundert im Bruchteil von Sekunden, zwei Stimmen fallen ineinander.

Nach der kurzen Vorstellung verschmelze ich angelegentlich mit den Schatten auf der Wand. Und ich werde nicht schreiben, was ich höre. Es ist nicht so wichtig, was sie sagen, sondern wie sie sprechen, ihre Besorgnis umeinander falten wie einen weiten wärmenden Shawl.

Die grobe Skizzierung will für ein Leben genügen..... es kann nicht alles erzählt werden. Wir müssen uns bald verabschieden, morgen Abend steht er in einer anderen Stadt auf der Bühne im Licht.

Vielleicht war diese Theaterkarte das erfolgreichste Geschenk, das ich meiner Mutter je machen konnte.

Nein, moralisierende Erbauung ist aus dieser Weihnachtsgeschichte nicht zu ziehen, lieber überlasse ich dem Meister selbst das Schlusswort: Männer und Frauen passen einfach nicht zusammen.... meint Loriot.



Hier endet der 133. Eintrag: Dieser Blog mischt Fiktion und Realität. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind zufällig und in der historischen Überlieferung nicht verbürgt. Ich bin nur der Navigator, mein Name sei NEMO:

Ich schreibe um unser Leben. Bitte bleib dran.


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Geschrieben von

archinaut

Ein Blick weitet den Horizont: Dieser Blog zieht um die deutschen Häuser

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