Graph Rapido und wie er in die Welt kam

Im archinaut: Heute abend erzählt El Lissitzky von einem Besuch in der Hauptstadt der Deutschen Demokratischen Republik

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In unsrem Tourbus archinaut: erinnert sich El Lissitzky heute an die Doppelstadt:

„Neunzehnhundertachtundachtzig war ich zu einem Symposion in der Deutschen Demokratischen Republik geladen, die Kunsthochschule in Berlin-Weißensee wollte einen Wettbewerb zu meinem hundertsten Geburtstag ausloben, eine Hommage à Lissitzky......ich war sehr gerührt, dass sich das Kollegium einer deutschen Hochschule an die alten Sachen erinnert!“

„Es ist schade, dass Deine Wolkenbügel nie gebaut wurden...“ bedauert Mies. El lächelt: „So bleiben sie immer jung, lieber Freund.....die Wolkenbügel schwanken nicht und rosten nie, ragen steil in den Himmel wie beim ersten Auftritt!“ „Wolkenbügel sind unsterblich...“ stimmt Ernst Jünger zu, der heute das Abendessen vorbereitet.

„Du warst im Jahr vor dem Abriss der Mauer noch in Berlin..“ fragt Peggy jetzt nach, „von diesem Berliner Grafen wolltest Du erzählen!“ Jünger zieht sich mit zwei geheimnisvoll-bauchigen Papiertüten in die Pantry zurück.

„Nach den Arbeitsgesprächen bin ich in das sozialistische Stadtzentrum. Als erstes habe ich die Stalinallee gesucht, sie hieß aber schon lange Karl-Marx-Allee, in langer Reihe gesäumt von Arbeiterpalästen, hellen Steinfassaden, breiten Promenaden, viel Grün, dann bin ich über den Alexanderplatz zum Palast der Republik gelaufen, zügig im Schritt, es war ein später Sommertag, sehr mild, die Luft geladen, als ob die Stadt noch einen letzten langen Tag Wärme aus der Sonne zieht, jeder Stein ahnt schon den Winterfrost..... so bin ich in Gedanken entlang der Linden flaniert, boulevard des somnambules, immer einsamer wurde es zum Ende, bis zu den Grenzposten vor dem Brandenburger Tor, ein stiller Schlusspunkt, nur das ergraute Monument, Wachsoldaten, offene Brachen ringsum, Grenzmarken der Hauptstadt, die Staatsgrenze der DDR als bewehrtes Ufer unserer sozialistischen Welt...“

„Deine Wolkenbügel sollten Moskau bewachen..... habe ich recht?“ mischt sich Humboldt-Alex jetzt ein: „Du wolltest eine Spur in die Stadt schreiben!“ „Wer will das nicht...“ murmelt Mies. „Dein Wolkenkratzer schrieb Architekturgeschichte, lieber Mies, aber nicht jeder hat das Glück, eine kapitalstarke Alkohol-Dynastie als Bauherr zu treffen...“ angelt Peggy wieder nach dem Gesprächsfaden und fragt nach dem Fortlauf der Geschichte.

„Wie ich so durch die klare blaue Luft träume, werde ich aufmerksam durch einen lebhaften Wortwechsel, der sich ein paar Schritte neben mir ergibt: Was machen Sie da, haben Sie eine Erlaubnis? Ein einzelner Mann in Zivil stellt einen jungen Mann zur Rede, der ein mattsilbernes Gerät in den Händen hält, eine Schmalfilmkamera, erfahre ich später. Der junge Mann verteidigt sich, dass er nur den Blick nach Westen durch das Brandenburger Tor aufnehmen wolle, aber das gefällt dem anderen Mann gar nicht: Wollen Sie etwa unsere Republik verlassen!..laut und aggressiv redet er, militärisch im Ton, vielleicht möchte er damit erreichen, dass die Wachtposten aufmerksam werden: Nein, ich komme doch von drüben... gibt der Mann mit der Kamera zur Antwort und nimmt mit dieser Bemerkung seinem Widerpart das Argument, der knurrt noch eine Weile herum, als möchte er Wiedergutmachung für die visuelle Grenzverletzung einfordern, dann lässt er ab und geht zu seiner Gruppe zurück, einer Familie mit Frauen und Kindern, die etwas entfernt stehen.

Der Mann mit der Kamera wartet einen Moment, nimmt dann die Linden Richtung Osten ins Visier des Apparats, zielt genau auf den Horizont, aber nur kurz, dreht sich dann in die andere Richtung, zielt durch die Mittelachse des Brandenburger Tores nach Westen, wendet sich wieder nach Osten, wiederholt diese Bewegung mehrfach auf der Stelle für einen kurzen Blick durch die Kamera. Ich höre das leise Klicken, es dauert zwei, drei Minuten, bis er sich das erste Mal ein paar Schritte über den Asphalt nach Osten bewegt, wieder hebt er die Kamera, klick, er geht ein paar Schritte, er bewegt sich auf der Mittelachse der Linden Richtung Stadtmitte....“

„Ich bin Kinoglaz,“ rezitiert Jünger aus der offenen Küche: „Ich bin das mechanische Auge. Ich, die Maschine, zeige euch die Welt so, wie nur ich sie sehen kann. Von heute an und in alle Zukunft befreie ich mich von der menschlichen Unbeweglichkeit. Ich bin in ununterbrochener Bewegung, ich nähere mich Gegenständen, ich krieche unter sie, ich klettere auf sie, ich bewege mich neben dem Maul eines galoppierenden Pferdes, ich rase in voller Fahrt in die Menge, ich renne vor angreifenden Soldaten her, ich werfe mich auf den Rücken, ich erhebe mich zusammen mit Flugzeugen, ich falle und steige zusammen mit fallenden und aufsteigenden Körpern....Dziga Vertov 1922 im Manifest Kinoki-Umsturz!“ El muss lächeln: „Dein Gedächtnis ist bewundernswert, lieber Küchenchef, hoffentlich hast Du auch schmackhafte Rezepte gespeichert!“ Marlene will jetzt nichts von entfesselten Kameras hören, schon das Wort erregt allergische Reaktionen ihrer Gesichtsnerven: „Erzähl ruhig weiter!“

„Ich bin ihm danach gefolgt, in der Mitte unter den Linden zieht er schnurgerade seine Bahn, hält nach etwa hundert Schritten, hebt die Kamera mit Blick gegen Osten, der Finger am Auslöser der Kamera bewegt sich kurz, nur wenig Menschen sind auf der Promenade unterwegs, er überquert die belebten Straßen, blickt nicht seitwärts in die Friedrichstraße zu den Gästen vor dem Café, vor dem Hotel, der Mann mit der Kamera läuft durch bis zur Schlossbrücke und bis zum Palast der Republik, wo er das Gerät endlich absetzt. Sein Plan scheint mir offensichtlich, und so kommen wir ins Gespräch...

Seinen richtigen Namen erinnere ich nicht, ich hab ihn immer nach der Rockband genannt, die er gründen wollte: Graph Rapido & die muthigen Dekonstruktöre....ein Wortspiel mit der Dekonstruktivismus-Mode der Achtziger Jahre und auch Referenz an unsere konstruktivistischen Pioniere, also werde ich ihn für Euch Graph Rapido nennen......die Band zerbrach wohl noch vor dem ersten Auftritt....“ „Euer Skribent hieß im Westen Rapidograph....“ erinnert sich Mies.

Afrikanische Spiele!“ ruft Jünger zum Essen, er hat angerichtet: Couscous mit frittierten Heuschrecken.

„Als Graph Rapido an diesem Abend zurück nach Westberlin musste, hat er mich nach drüben eingeladen. Er ist damals gerade mit seinem Mädchen zusammengezogen,“ schließt El seine Geschichte.



Hier endet der 119. Eintrag: Dieser Blog mischt Fiktion und Realität. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind zufällig und in der historischen Überlieferung nicht verbürgt. Ich bin nur der Navigator, mein Name sei NEMO:

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archinaut

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