In den Linden

Folge der Sonne! Die beiden Freundinnen machen sich auf den Weg....

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Auf der Mittelpromenade wird heute Kaffee serviert, frisch glänzt der Tag in der frühen Maisonne, die beiden Freundinnen haben einen freien Tisch Unter den Linden gefunden.

„Vom Schlossplatz haben wir lange nichts gehört.... manchmal denke ich, dass sie uns vermissen im archinaut:.....“ nachdenklich zerwühlt Peggy ihren kleinen Braunen mit einem zierlichen Löffelchen und rettet ein grüngeflügeltes Insekt vor dem Kaffeetod.

Marlene schweigt, ganz langsam sinkt ihr Hinterkopf in den Nacken, mit geschlossenen Augen sucht ihr Gesicht das warme Licht der Sonne, die Schatten der Blätter spielen über ihr Haar....

Peggy redet nicht weiter, sie will die Freundin nicht stören.

„Mein Vater hat mir die Linden gezeigt...... manchmal glaube ich, das ist meine erste Erinnerung....“ Marlenes Stimme ist sonderbar, denkt Peggy, so habe ich sie noch nie reden hören: „ .. ein kleines Mädchen im ersten Sonntagskleid.... Heute geh’n wir auf die Linden.... ganz fröhlich war er an diesem Tag, hat sogar in der Stube ein Tänzchen mit der Mutter probiert, so glücklich war er, der schwarze brummige Bär, seinem eleganten kleinen Fräulein die große Welt zu zeigen.... wir sind mit der Elektrischen gefahren... eine halbe Weltreise für ein Kind, auf der engen, verrauchten Schöneberger Insel wohnten wir damals noch...“

Marlene spricht zu den Bäumen, denkt Peggy.

„So viele Menschen! Sie flanieren die Linden auf und ab in Reihen, in Paaren, in Gruppen, überall Rüschen und Schirmchen und Kordeln, Samt und Taft, sie gehen wie sie reden, schwatzen, diskutieren, schnell oder langsam, die Hände fliegen dazu hin und her, alles glänzt in der Sonne, die Uniformen, Händler dazwischen... und die Droschken erst, mit den glänzenden Pferden.... an diesem Tag hat er mir wohl das erste Mal ein Automobil gezeigt.... überall ein Rauschen und Summen, ein Meer aus Tönen und Geräusch, vor den prächtigen Häusern sitzen sie in den Cafés, lachen und reden und winken zur Promenade, grüßen in die Mitte, in das Licht unter dem hellen Blätterdach...“

.....ist der Sammelplatz des höheren, durch Stand oder Reichtum zum üppigeren Lebensgenuß berechtigten Publikums. In dem Erdgeschoß der hohen breiten Paläste werden meistenteils Waren des Luxus feilgeboten, indes in den obern Stockwerken Leute der beschriebenen Klasse hausen. Die vornehmsten Gasthäuser liegen in dieser Straße, die fremden Gesandten wohnen meistens darin, und so könnt ihr denken, daß hier ein besonderes Leben und Regen, mehr als in irgendeinem andern Teile der Residenz, stattfinden muß, die sich eben auch hier volkreicher zeigt, als sie es wirklich ist. Das Zudrängen nach diesem Orte macht es, daß mancher sich mit einer kleineren Wohnung, als sein Bedürfnis eigentlich erfordert, begnügt, und so kommt es, daß manches von mehreren Familien bewohnte Haus einem Bienenkorbe gleicht... an diese alte Beschreibung muss Peggy jetzt denken (E.T.A. Hoffman, Das öde Haus, 1815)

„Der Vater trägt mich auf den Schultern, ich bin ja noch ganz klein....“ Marlenes Stimme bleibt ungewohnt flaumig und leicht, „er lacht und er nennt mich Kleine Bienenkönigin... mir ist, als ob die grün leuchtenden Blätter mit tausend Stimmen sirren und zirpen, ein Brausen schwebt in der süßen Luft, aber ich bin ganz furchtlos auf seiner Schulter, weil er mich doch trägt..... er hebt mich hoch in die Blütenwolke, in ein lebendes Meer von summenden Bienen und Myriaden von kleinen flirrenden Flügelwesen, die durch das hängende Blütenmeer tauchen wie bunte Fische an einem Korallenriff.... als ob das Laubdach ihre Stadt sei, die sie ernährt und die sie befruchten...und da weiß ich auf einmal, dass ich eine große, strahlende Bienenkönigin werden will, so groß wie eine herrliche Linde!“

In ihrem Gesicht scheint sich der Himmel zu spiegeln.

„Der Vater starb im nächsten Jahr, die Linden hat er nie wieder gesehen,“ schließt Marlene langsam, das kleine Mädchen in ihrer Stimme ist plötzlich ganz müde geworden.

Ihr Schweigen schreibt eine schmerzliche Lücke in die warme Maisonne. Das muss über hundert Jahre her sein, denkt Peggy.

„Als wir den Film angesehen haben, konnte ich die Linden kaum erkennen,“ murmelt Marlene, „auch heute sind sie fast menschenleer..... als hätten die Leute jede Neugier verloren...“

Als Marlene jenen Film erwähnt, erinnert sich Peggy an die Geschichte, die El Lissitzky dazu erzählte....

„Ich habe Sehnsucht nach dem Duft der süßen Linden,“ sagt Marlene unvermittelt und wendet ihr Gesicht weg von der Freundin, gegen den Horizont irgendwo hinter dem Brandenburger Tor, „glaubst Du, wir werden die Blüte noch erleben?“


Hier endet der 166. Eintrag: Dieser Blog mischt Fiktion und Realität. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind zufällig und in der historischen Überlieferung nicht verbürgt. Ich bin nur der Navigator, mein Name sei NEMO:

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Geschrieben von

archinaut

Ein Blick weitet den Horizont: Dieser Blog zieht um die deutschen Häuser

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