Jungfernfahrt*

Vom Fahren: Schwarz poliert glänzt der Lack...

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Nachdem Stallmeister am Telefon zunächst Vorschläge zur Ausstattung (Lederausstattung? Glasschiebedach? Integrierte Kindersitze? Elektronische Geschwindigkeitsregelung?) gemacht hat, beendet er das Gespräch schließlich mit leicht nervösem Unterton: Ich lasse Ihnen den Katalog schicken, dann stellen Sie zusammen, was Sie brauchen!

Das monatliche Arbeitslosengeld reicht keine vier Wochen, Alleinverdiener mit Familie sind im System nicht vorgesehen..... ist die Miete bezahlt, kann der Kühlschrank gefüllt werden, aber die Schuhe müssen durchhalten, neue Hosen kommen später dran.... an die Autoreparatur will er gar nicht denken. Der TÜV des Familienkombis läuft in drei Monaten ab.

Er rechnet die Aufpreise im Katalog um: Lederausstattung fünf Wochen, Glasschiebedach dreieinhalb Wochen.... wenn das erste Gehalt im neuen Arbeitsvertrag kommt, kann er sogar die Betriebskosten für die Mietwohnung nachzahlen, denkt er..... Warum muss der Wagen für den Geschäftsführer so viel Geld kosten? Der Grundpreis ist dreimal so hoch wie das Arbeitslosengeld für ein ganzes Jahr...

Aber ein rostiger Kombi ist keine Antwort....

Schwarz poliert glänzt der Lack, das helle Leder riecht wie eine teure Handtasche: Nach vier Wochen steht der neue Wagen in Berlin vor der Tür. Die beiden Töchter sind schwer beeindruckt: Mittelarmlehne hinten mit integriertem Staufach und Getränkehalter (2), klappbar!

Anzahlung und erste Leasing-Rate ist vom Quedlinburger Büro bezahlt, als neuer Geschäftsführer hat er die Überweisung freigegeben.

Die Sonne scheint durch das offene Glasschiebedach auf die hellen Lederpolster. Die Kinder sind woanders verabredet.

Sie sitzt jetzt neben ihm und schweigt: Ein vertrautes Paar in einem neuen Auto, das riecht wie eine luxuriöse Handtasche.

Aber er hat ihr nicht erzählt, dass Dr. Frantz auf sein Angebot wartet.

Fahr los! sagt sie. Er lässt den schwarzglänzenden Wagen an, fährt aus der Wohnstraße, folgt dem Verkehrsstrom über den vierspurigen Damm, wechselt auf die Stadtautobahn, dann auf die Avus schnurgerade durch die südlichen Waldreviere...... sie reden auch weiterhin kein Wort.

Erst vor den Grenzen der Stadt sucht er die letzte Abfahrt, rechterhand leuchtet kurz der Wannsee, er lenkt den Wagen in Richtung Glienicker Brücke.

Wo keine Häuser mehr stehen, zweigt ein Weg rechts ab in den Wald. Folgt man ihm, liegt am Ende die kleine Kapelle, in der ihre erste Tochter getauft wurde. Von der Freiterrasse davor hat man einen offenen Blick über die weite Havel.

Sie lächelt jetzt. Sie glaubt, dass sein neuer Job ein Geschenk des Himmels ist. Sie hat heimlich dafür gebetet.


*Jungfernfahrt

Mit diesem Wort bezeichnet man nicht eine Fernreise junger Menschen, sondern die erste Fahrt eines Wasser- oder Landfahrzeuges. Beim Ersteinsatz unter realen Bedingungen muss das neue Fahrzeug seine Tauglichkeit beweisen, was nicht immer gelingt. Legendär scheiterte die Jungfernfahrt der Titanic, die am 14. April 1912 nach der Kollision mit einem Eisberg sank.



Hier endet der 183. Eintrag: Dieser Blog mischt Fiktion und Realität. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind zufällig und in der historischen Überlieferung nicht verbürgt. Ich bin nur der Navigator, mein Name sei NEMO:

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Geschrieben von

archinaut

Ein Blick weitet den Horizont: Dieser Blog zieht um die deutschen Häuser

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