Kleiner Entwurf über die Utopie

Im archinaut: El Lissitzky schließt die Erzählung über Graph Rapido mit der Erinnerung an eine Wette gegen die Zeit

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„Du redest über Graph Rapido, als ob er die Stadt zur Braut nehmen möchte,“ feixt Peggy, „ein junger Architekt als entflammter Liebhaber, der versucht, die Umworbene zu erobern....“ „Ostberlin oder Westberlin?“ fragt El Lissitzky leicht irritiert....

John kommt zurück in den archinaut: Er kassiert abends und verteilt das begehrte Destillat. Die offene Schleuse gibt kurz den Blick auf die nächtlich schattige Baustelle unter dem Flutlicht frei, als Schussfeld glänzt hell der Schlossplatz nach dem Regen. Durch dunkle Himmel strömt klare Kaltluft aus den fernen Weiten der östlichen Steppen.... Bald gibt es Schnee, denkt Jünger, Schnee aus Stalingrad....

Im offenen Kamin des archinaut: knistert es leise. „War Dein fleißiger Aspirant denn zum Termin fertig?“ fragt Mies.

„Sein Entwurf war auch eine Wette gegen die Zeit, eine Selbstprüfung: Er beschrieb eine Utopie, damit die Realität ihn bei seinem Werk nicht behindern konnte,“ versucht El zu erklären. „Wer an einer Utopie arbeitet, hat alle Zeit der Welt, den perfekten Entwurf zu schaffen,“ bestätigt Mies, „aber was für eine Wette?“

„Ein Architekt soll zeigen, dass er das Chaos der Welt ordnen kann: Zwingt er das endlose Chaos in eine endliche Ordnung? Oder folgt er dem Chaos in seiner unendlichen Ordnung? Kann er in seiner endlichen Arbeitszeit etwas erfinden, etwas schaffen, das seine Lebenszeit überdauert? Wird die Zukunft seine Pläne erfüllen, seine Häuser und Fabriken, seine Plätze und Quartiere, sein Werk mit Stoff und Leben vollenden, fragt er sich: Gelingt es ihm, andere von einem Plan zu überzeugen?“

John wundert sich: „Er hat gegen sich selbst gewettet?“

„Das dezentrale Forum sollte aus 27 Gehäusen für eine noch unbenannte Bewegung bestehen, und Rapido wollte Jahr für Jahr ein anderes Gehäuse für die Bewegung konstruieren, Schritt für Schritt fünfhundert Meter nach Osten, in die alte Stadtmitte........ und er fragte sich, ob die Mauer noch steht, wenn er beim Gehäuse Nr 4 ankommen würde, das die Berliner Mauer am Brandenburger Tor traf, wie ich vorhin erwähnt habe.“

„Aber er hatte nicht siebenundzwanzig Jahre Zeit für den Entwurf!“ stellt Mies fest, „soviel Zeit lässt kein Bauherr! Ich hätte ihn durchfallen lassen, wenn er mir so eine Geschichte in der Prüfung erzählt hätte!“

El Lissitzky lacht: „Ganz nebenbei...was mich oft gewundert hat: Zwei Begriffe kennen die Hochschulen deutscher Sprache für den letzten Termin, Vorstellung und Verteidigung.....was trifft eigentlich besser? Der Termin für die Präsentation war irgendwann im Juli neunundachtzig, Westberlin brach zum letzten Mal in die Urlaubszeit auf, was noch niemand ahnen konnte..... das Gebäude der Fakultät wurde überraschend leer gezogen, das Haus musste wegen Asbestverdacht gesperrt werden.... nur mit Mühe konnte Rapido sich noch einen Raum für die Vorstellung seines Entwurfs sichern.“

„Warst Du dabei?“

„Ja, alle Vorstellungen waren öffentlich, der Weg durch das Gebäude war allerdings wegen der bevorstehenden Sperrung schwer zu finden, überall hingen schon Plastikfolien...... Rapido hatte mir den Termin genannt, etwa vierzig Besucher hatten in den Raum gefunden, die beiden prüfenden Professoren natürlich, andere Studenten, ein paar Freunde...“ erzählt El.

„Zunächst stand er wie ein Fremder neben seinen Plänen und Modellen, zeigte den Film und die ersten Phasenzeichnungen, dann erzählte er von den verschiedenen Arbeitsschritten der letzten Monate, schließlich konnte er nicht mehr aufhören zu reden.... mit jedem Wort, mit jedem Satz versuchte er, die Schwerelosigkeit seiner Utopie zu bewahren.“

„Nichts ist so wirksam wie eine Utopie...“ murmelt Peggy, „an den Mythos der Titanic muss ich oft denken, an die Utopie der unsinkbaren Arche, die das Reisen in eine neue Zeit führen sollte,“ nachdenklich macht sie ein Pause und sucht die nächsten Worte: „Mein Vater hat uns noch ein lustiges Telegramm geschickt vor der Abfahrt, Ich werde die Fliegenden Fische von Euch grüßen..... als das Telegramm der Reederei kam, die Aufmacher in den Zeitungen zu lesen waren, da habe ich ihn immer noch gesehen, strahlend in heiterer Gesellschaft auf einer leuchtenden, modernen, schwimmenden Stadt des eleganten Reichtums und der luxuriösen Vergnügungen, die Musik der Tanzorchester begleitet fröhlich ihren Weg in eine andere, unbeschwerte Welt, und ich wusste ganz tief in meinem Kinderherz, dass für meinen Vater in der Nacht des Eisbergs einfach nur der unsichtbare Rest der Erdballs untergegangen war...“

„Eine Utopie kann die Realität überwinden....“ versucht Mies eine Ablenkung. „Die Utopie kann die Realität zerlegen,“ setzt Jünger den Gedanken fort, „die Utopie der individuellen Freiheit konnte zum Beispiel den real existierenden Sozialismus desorganisieren!“

„Utopia kills Utopia!“ Wenn es zu deutsch wird, wechselt John gern in sein Heimatidiom: „archinaut:s finest, You want some?“

„Die Utopie der Liebe tötet jede Ehe....“ muss Peggy jetzt lächeln.

„Übrigens haben wir auch nicht siebenundzwanzig Jahre Zeit, Deiner Geschichte zu folgen, verehrter Freund der Revolution,“ stichelt Jünger weiter, „wir sind sterbliche Menschen und leben für den Augenblick! Kannst Du den Entwurf des hoffnungsvollen jungen Architekten vielleicht in drei Sätzen zusammenfassen?“

El Lissitzky überlegt einen Moment: „Die Phasenzeichnungen erinnere ich noch, hatte sie ja schon erwähnt, eine kurze Serie Schwarz-Weiß-Grafiken, dazu eine kleine Geschichte: Der Palast der Republik erfährt einen Energieschub, löst sich auf und sendet einen Vektor reinster Energie, einen Energiestrahl sozusagen, der zwei Archetypen in den Westen transportiert: den frühsowjetischen Arbeiterclub als Ort politischer und gesellschaftlicher Aktivität.....und den Palast der Arbeit als Repräsentation des Kollektivs. Die Zeichnungsserie bekam den Titel: Palazzo Prozzo Perestroika...“

„Dann hat Dein Freund also im jugendlichen Übermut den Palast der Deutschen Demokratischen Republik versenkt,“ spottet Ernst Jünger. Es soll ein Scherz sein, aber niemand lacht.... sie sind alle etwas müde geworden. Jeder in der Runde hier hängt gerade seinen eigenen Gedanken nach.....



Hier endet der 129. Eintrag: Dieser Blog mischt Fiktion und Realität. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind zufällig und in der historischen Überlieferung nicht verbürgt. Ich bin nur der Navigator, mein Name sei NEMO:

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