Kleiner Entwurf über die Bestimmung

Im archinaut: Vor dem Kaminfeuer flackern die abendlichen Plaudereien der Reisenden

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

„Wo sind eigentlich die Kaninchen.......ich habe sie lange nicht gesehen?“ mit diesen Worten tritt Marlene nach der Zigarettenpause durch die Schleuse in den archinaut: Ein böser Verdacht begleitet die Frage, nachdenklich schickt sie ihren kühlen Blick hinüber zu Ernst Jünger. Er antwortet nicht auf ihren Argwohn. Gerade ist es ihm gelungen, das Kaminfeuer des archinaut: zu starten, obwohl das Bordsicherheitssystem sich empört: Fire! Fire! Fire! blinkt das Display des Kontroll-Screens, den Warnton hat John bereits stillgelegt: „Kaninchen graben verzweigte Höhlensysteme im Erdreich,“ sagt er, „bei Gefahr suchen sie dort Zuflucht!“ „Erzähl’ mir bitte nicht, dass sie irgendwo da unten ihren Winterschlaf halten!“ erwidert Marlene noch, wendet sich dann aber dem Gespräch der Gefährten zu. Mit leisem Knacken und Zischen züngelt das Feuer, während draußen der Wind über den nächtlichen Schlossplatz tobt.

„Jeder Mann braucht ein Ziel!“ postuliert El Lissitzky gerade. „Und das Ziel ist die Frau?“ provoziert Peggy. Der leicht vernutzte Slogan von El findet wenig Zustimmung bei Mies: „Das Ziel wartet am Ende.... vorher kann ich eine Vision formulieren, less is more...aber erst hinter dem Horizont werde ich das Ziel finden, deutlich bestimmbar in dem Moment, da ich es erreicht habe.“ „Der Weg ist die Bestimmung des Ziels!“ ergänzt Will. „Jede Form ist das erstarrte Momentbild eines Prozesses. Also ist das Werk Haltestelle des Werdens und nicht erstarrtes Ziel: das ist von Dir, lieber Lissitzky!“

„Du meinst die Proune, unsere Haltestellen auf dem Aufbauweg der neuen Gestaltung....Die Aufgabe des Proun ist die stufenweise Bewegung im konkreten Schaffensprozess....“ erinnert sich El.

Das wirksamste ist nicht die Form, sondern die Umkehrung, der Raum, das Leere, das sich rhythmisch zwischen den Mauern ausarbeitet, von ihnen begrenzt wird, aber dessen Lebendigkeit wichtiger ist als die Mauern, hat August Endell über die Schönheit der großen Stadt geschrieben,“ doziert Ernst Jünger: „Wer den Raum empfinden kann, seine Richtungen und seine Maße, wem diese Bewegungen des Leeren Musik bedeuten, dem ist der Zugang zu einer beinahe unbekannten Welt erschlossen!

„Man hat immer mit diesem Paradox zu kämpfen,“ wirft Mies jetzt ein, „man entwirft Formen und Räume für einen lebendigen Organismus, für eine wachsende Familie, für eine veränderliche Organisation, für Menschenschwärme...... aber der Plan muss sich in der Zukunft an einem unbestimmbaren Schnittpunkt mit der fortgeschriebenen Realität treffen. Dabei schreitet das Bauen leider viel langsamer voran als das ungestüme Leben!“

John wundert sich über die deutsche Sprache: „Hat das Wort Ziel die gleiche Bedeutung wie das Wort Bestimmung?“

„Bei einer Reise, so wie auch in einem Film, ist nicht das einzelne Bild wichtig, sondern der Sprung dazwischen, den unser Gehirn als Bewegung interpretiert,“ versucht Jünger zu erklären. „Eisenstein hat das Prinzip der Montage beschrieben: Die Bewegungs-Empfindung entsteht im Prozess der Superposition des behaltenen Eindrucks der ersten Position des Objekts und der folgend sichtbar werdenden Position des Objekts. So entsteht andererseits das Phänomen der Raumtiefe als optische Superposition zweier Flächen im stereoskopischen Falle. Aus der Superposition zweier Flächen entsteht überhaupt eine neue Dimension.“

Marlene und Peggy äußern halblaut ironische Bemerkungen über Einsteins Theorien.

„Eisenstein, nicht Einstein!“ korrigiert Jünger irritiert: „Das Ziel kann man also nur erreichen, wenn man einen Eindruck der Ausgangsposition in der Erinnerung behält......Sergej M. Eisenstein kritisiert, dass andere Filmtheorien die Montage als Abrollen der zusammengesetzten Gedanken beschreiben, er selbst definiert den Moment des Zusammenpralls vielmehr als Geburt eines neuen Gedankens, und das erläuterte er mit einer Analogie zur Entstehung der japanischen Schriftzeichen, zum Beispiel:

Auge + Wasser = weinen

Tür + Ohr = lauschen

Kind + Mund = schreien

Mund + Hund = bellen

Messer + Herz = Kummer...“

„Matrose + Palast = Revolution!“ ergänzt Marlene fröhlich, natürlich weiß sie, wer Eisenstein ist.

„.....das Phänomen der Raumtiefe hat mich daran erinnert, dass ich Euch heute Abend etwas von Graph Rapido zeigen wollte,“ El hat gerade eine schwarze Kladde aus dem Archiv geholt und schlägt sie auf.

Der Aministrator des archinaut: stöhnt.....zu viele Formate!

http://www.planQLB.de/freitag/freitagblog123A-k.jpg

Unter die Skizze hat der Verfasser notiert:

Kleines Haus für unbekannte Verrichtungen, 27.12.1987



Hier endet der 123. Eintrag: Dieser Blog mischt Fiktion und Realität. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind zufällig und in der historischen Überlieferung nicht verbürgt. Ich bin nur der Navigator, mein Name sei NEMO:

Ich schreibe um unser Leben. Bitte bleib dran.


Next

Back

Klick zum Gästebuch

Dieser Blog mischt Fiktion und Realität. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind zufällig und in der historischen Überlieferung nicht verbürgt. Ich bin nur der Navigator, mein Name sei NEMO:

Ich schreibe um unser Leben. Bitte bleib dran.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

archinaut

Ein Blick weitet den Horizont: Dieser Blog zieht um die deutschen Häuser

archinaut

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden