Krone der Gentrifizierung

Mitte: Ein Schloss wirft lange Schatten

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Nach dem Zusammenbruch des Römischen Reichs geriet das Forum Romanum in Vergessenheit und wurde mehr Legende als Erinnerung, weiß Wikipedia: Es trug zeitweilig den Namen Campo Vaccino („Kuhweide“). Für Milchvieh ungeeignet scheint dagegen die Athener Akropolis, selbst wenn am berühmten Festungsberg inzwischen wieder der Lippenblütler Micromeria acropolitana entdeckt wurde, der für über 100 Jahre ausgestorben schien. Auf den beiden legendären Stadtbrachen der Antike werden heute vorwiegend Touristen zur Weide geführt, Weide der Augen, der Ohren, der Fantasie. Die verbliebenen Relikte müssen als Imaginationsarsenal reichen, Zusatzfutter für Augen und Ohren ist käuflich zu erwerben.

Ob die tüchtige deutsche SPD wohl auch die Akropolis und das Forum Romanum aufsiedeln wollte?

„Das Marx-Engels-Forum ist eine Brache, geprägt von Herrschaftsarchitektur, umgeben von überdimensionierten Straßenschneisen,“ zitiert die Berliner Zeitung den Parteichef Jan Stöß: „Diese unwirtliche Gegend wird von der Stadtgesellschaft gemieden.“ Während jugendliche Aspiranten besagter Gesellschaft die Schattenzonen des benachbarten Alexanderplatzes zu fragwürdiger urbaner Tribalisierung nutzt, befürchten Stadtplaner laut Berliner Tagesspiegel Verwahrlosung unter dem Fernsehturm.

Stöß ist Jurist, möglicherweise mit einem Hang zur Stadtentwicklung wie viele große Volkstribune. 2008 promovierte er an der Humboldt-Universität zu Berlin mit einer Arbeit über Großprojekte der Stadtentwicklung in der Krise, behauptet Wikipedia. Der Fraktionschef seiner Partei sekundiert brav, das Stadtschloss und die Verlängerung der U-Bahnlinie 5 sei bereits im Bau, deshalb müsse man heute nach Antworten auf städtebauliche Fragen suchen, die sich bereits jetzt und nicht erst nach 2017 mit Fertigstellung der Schlossfassade stellten. Man möchte hier Wohnungsbau ermöglichen, sagen sie, und auch beim christlich demokratischen Koalitionspartner finden sich Gleichgestimmte....

Was hat es zu bedeuten, wenn Berliner Politiker ins Vibrato wechseln und öffentlich über Stadtentwicklung tremolieren? Welche Vision hat ein potentieller Bürgermeisterkandidat von der Seele der Stadt? Träumt er von einem öffentlichen Bürgerforum, auf dem die res publica mit heißem Herz und freier Rede diskutiert werden? Wenigstens von einer speaker’s corner?

Warum erklärt den Politikern niemand, dass man eine Seele nicht bauen kann? Nicht mit Beton, Glas oder Stahl, nicht mit Holz oder gebrannten Mauerziegeln. Warum lassen die vorgeblichen Interessenvertreter des Bürgerwillens zu, dass die Allmende geraubt wird (privatisieren kommt bekanntlich von privare (lat.), übersetzt befreien, auch berauben), wenn sie das Herz der Stadt verkaufen?

Nur wenig fehlt, und wir sehen bereits die luxuriösesten Shopping-Oasen vor unserem inneren Auge aufblühen, neidlos, großbalkonige Appartements mit Schlossblick und Bentley-Parkelevator prunken, heimatlos, vielbesternte Gourmet-Tempel glänzen, von Livrierten bewacht und hoffnungslos unerreichbar wie eine Fata Morgana.

Blick in die Presse

http://www.berliner-zeitung.de/berlin/stadtplanung-berlin-mitte-wohnungen-am-roten-rathaus,10809148,22545800.html

http://www.tagesspiegel.de/berlin/vergangenheit-hat-zukunft/8097752.html

http://www.tagesspiegel.de/berlin/die-spd-streitet-am-rathaus-stadtplaner-befuerchten-verwahrlosung-des-fernsehturm-viertels-/8105568.html


Nachtrag zum 17. Eintrag vom 22.09.2009: Hinter uns liegen die Chronolysen (in vier Akten)... die Timeline im Blog archinaut: ist inzwischen justiert. Dieser Blog berichtet aus Deiner Welt. Ich bin nur der Navigator, mein Name sei NEMO:

Ich werde Euch nicht schonen. Öffne Deine Augen.

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archinaut

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