Landmarken des Scheiterns

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Wann die Reise ihr Ende findet, wissen wir nicht. Von einer Sekunde zur anderen wendet sich das Blatt, so auch in der Nacht vor der Überfahrt nach Giglio im Sommer 20??: Zu spät für die letzte Fähre, beide Kinder müde und hungrig im Wagendunkel hinten.... weit nach Mitternacht finden wir wider Erwarten einen Platz in der Herberge:

Die Italiener lieben Kinder, so vermietet man uns das Appartement in der ausgebauten Garage, das gar nicht gelistet ist. Ein Doppelbett für vier Personen? Nein, stolz klappt die freundliche Platzanweiserin ein Stahlbett aus dem Schrank, todmüde werfen sich beide Kinder auf die Matratze.... als aber die Große pflichtbewusst die Zahnbürste sucht, schließt das stählerne Ungeheuer mit einem gewaltigen Rumms seine mächtige Kieferlade, die Kleine ist verschluckt, aus unergründeten Tiefen der federgetriebenen Apparatur setzt ein hohes, panisches Kindergebrüll ein (die freundliche Einweiserin ist längst wieder im nachtschlafend dunklen Hotel verschwunden!).... zum Glück kann sie noch schreien, dann ist der Schädel noch nicht zerschmettert, denkt man ungewollt, während man mit Zähnen und Klauen das unbekannte, aber offensichtlich feindlich gesinnte Möbelstück zerlegt, um die eigene Brut aus der stahlschnappenden Rattenfalle zu retten.....

Denn Liebe zum Meer ist nichts anderes als Liebe zum Tode, schreibt Thomas Mann,der seinen Gustav von Aschenbach stilvoll in Venedig Schiffbruch erleiden, letztlich sogar sterben lässt....

Wüssten wir, wo unsere Reise enden soll, so könnten wir den Ort meiden.... und ihn erst dann suchen, wenn wir bereit sind.... hieße er nun Venedig, Giglio, Tanger oder Quedlinburg.

In das kitschblaue Meer springen wir am nächsten Morgen vom Betonpier des Hotels... die schreckliche Nachtmahr ist schon fast vergessen, und die von Mann behauptete Todessehnsucht ist es gewiss nicht, die uns zum Meer und nach Giglio treibt.... nein, Freunde haben von der Schönheit der Insel geschwärmt, wir werden sie treffen.

Wir sind schon so viele Jahre an diesem Strand, erzählen sie uns, früher gab es hier noch keine deutschen Touristen, nur die Römer sind im Sommer nach Giglio gekommen, das ist ihre Insel so wie Sylt die Insel der Hamburger ist.... Später erzählen sie noch von einem jungen Schweizer, der in jenen Sommern das Inselleben bereicherte: .... so ein Langer, wollte Fotograf werden, etwas ungeschickt, sehr lustig anzusehen, jedes Mal, wenn er in ein Boot stieg, kippte es um, er stürzte auf der anderen Seite ins Wasser.... man konnte sehen, wie sehr er das Meer liebte! Er hat dann eine wasserdichte Kamera gekauft und unter Wasser fotografiert....

Den Passagieren der Costa Concordia ist die Liebe zum Meer vor der idyllischen Insel Giglio möglicherweise vergangen, nachdem der Schiffbruch des weißen Kreuzfahrtschiffes eine neue Tragödie in die Annalen der menschlichen Hybris und des Scheiterns einschrieb....

Und auch die Geschichte des letzten Schleppnetzfischers von Giglio hat uns berührt, als ihm der Freitag ein bedrückendes literarisches Denkmal setzte:

Angelo weiß am Morgen genau, wohin er zum Fischen fahren möchte. Jahreszeit, Wetterlage, Wind und die Stelle, an der er am Vortag gefischt hat, bestimmen seine Wahl. Wenn das Netz geöffnet wird und der Fang auf das Achterdeck der Annamaria fällt, sticht als Erstes der Müll ins Auge. In keinem anderen Meer der Welt lagert so viel Abfall wie im Mittelmeer. Der größte Teil der Arbeitszeit der beiden Männer entfällt auf das Aussortieren des Abfalls. Dann erst widmen sie sich Fischen und Meeresfrüchten. (Wolfgang Sréter, der Freitag, April 2012)

Wenn die Meere ersticken, ist unsere Reise zu Ende.

Schiffbruch droht immer als unwillkommene Option, aber die Aussicht des Scheiterns darf uns nicht abhalten, unseren Kurs zu suchen, auch bei widrigen Winden.

Der junge Schweizer Fotograf hat im Meer übrigens nicht den Tod gefunden, sondern mit seinen Fotografien eine Zeitschrift begründet.... später habe ich einmal mit ihm telefoniert, und wir redeten nicht über das Scheitern, sondern über das, was davor liegt....



Hier endet der 318. Eintrag: Dieser Blog mischt Fiktion und Realität. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind zufällig und in der historischen Überlieferung nicht verbürgt. Ich bin nur der Navigator, mein Name sei NEMO:

Ich schreibe um unser Leben. Bitte bleib dran.


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Geschrieben von

archinaut

Ein Blick weitet den Horizont: Dieser Blog zieht um die deutschen Häuser

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