Leuchtfeuer von Thale

Insel Harz - feine Linien und zarte Flächen sind auf den Bildern zu sehen, Schiffe und Wolken und Küstenlinien und dazwischen: blaue oder rote oder grüne Wiesen.

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Eine böse Fee hat das Land verflucht. Mittendrin liegt eine finstere alte Stadt mit engherzigen Häuslern und Tagelöhnern darin.

Die Leute erzählen:

In einer Höhlung des Schlossbergs haust der verrückte König. Die Königin ist verwandelt in eine giftige Spinne. Manche sagen: Sie ist schon vertrocknet.

Alle Brunnen der Gegend sind staubig und leer. Die Sonne ist blau im Winter, aber das Land trägt kein Eis. Die Sonne ist rot im Sommer, aber kein Regen netzt die Ebenen.

Das Korn auf dem Feld vertrocknet vor der Reife. Die Wiesen liegen verkrautet und grau. Nirgendwo leuchtet eine Blüte.

Ein kleines Mädchen lebt in der finsteren Stadt, sie heißt Thea, und sie nennt ihre Puppe Doro. Doro und Thea sind unzertrennlich. Ihre Eltern sind tot, sie schläft im Laden des Fischhändlers. Er behandelt sie gut, aber er ist taubstumm. Sie versteht seine Gebärden.

Und eines Tages im März hat der Fischhändler den letzten Fisch verkauft. Traurig sitzt er vor seinem Laden.

Thea kann ihn nicht trösten. Thea kann ihm nicht helfen.

Sie fragt: Woher sind die Fische gekommen? Das Gesicht des Fischhändlers verändert sich, seine Augen beginnen zu leuchten, er lächelt leise. Dann macht er eine Gebärde, die sie nicht versteht. Auch ihre Puppe Doro versteht die Gebärde des Fischhändlers nicht.

Thea fragt Doro: Wo wohnen die Fische? Doro ist die liebste Puppe der Welt, und sie weiß alles. Aber auch Doro kann ihre Frage nicht beantworten.

Der Fischhändler nimmt Doro und Thea an die Hand. Sie gehen in eine Ausstellung und schauen dort die Bilder. Feine Linien und zarte Flächen sind auf den Bildern zu sehen, Schiffe und Wolken und Küstenlinien und dazwischen: blaue oder rote oder grüne Wiesen.

Wo sind die Fische? Wieder macht der Fischhändler eine Geste, die Doro und Thea nicht verstehen. Und seine Augen leuchten dabei strahlend blau, wie man ihn noch nie gesehen hat.

Kaum sind sie zurück im Laden, geht der Fischhändler auf den Speicher seines kleinen Hauses. Er holt viele Gerätschaften und Netze vom Speicher herunter und packt alles zu einem mächtigen Bündel zusammen.

Am Nachmittag gehen sie fort in die Berge: Doro, Thea und der Fischhändler mit seinem Gepäck. Sie steigen auf zum Hexentanzplatz über Thale. Bald ist Walpurgis. Es naht die Nacht.

Hoch über der Stadt blicken sie ein letztes Mal zurück. Vor ihnen liegt weit die Ebene der Quedlinburger Bucht. Der Blick reicht bis Ballenstedt und Blankenburg, Thale liegt zu ihren Füßen. Dünn steigt der Herdrauch in den Abendhimmel, die ängstlichen Häusler erwarten die Nacht in ihren drückenden Kammern und Stuben. In den Ställen steht unruhig das durstige Vieh. Bald ist Walpurgis. Schwarz steht die Nacht.

Es rauscht in der Ferne. Zur Mitternacht fährt ein Wind vom Brocken herab, Gelächter und Keifen darin, aber auch Zwitschern und früher Hahnenschrei.

Leuchtspuren durchqueren den nächtlichen Himmel. Auf den Höhen der Harzberge erglimmen Funken, daraus erblüht eine Kette von Feuern auf den Kämmen der Berge, erst unstet, dann kräftig und wärmend.

Machtvolles Brausen und Toben füllt die schwarze Luft.

Doro und Thea haben keine Angst. Vor ihnen blinkt das hellste Licht. Der Strahl eines Leuchtturms durchschneidet den Himmel, wandert weit hinaus über die nachtschwarze Ebene und kehrt zu ihnen zurück.

Der Fischhändler ruft sie. Am Fuß des Leuchtturms finden sie eine niedrige Tür. Nur Doro und Thea können hindurch, und der Fischhändler sagt: Habt keine Angst, geht hinauf zum Leuchtfeuer.... Dort oben sitzt ein alter Freund von mir, der Leuchtturmwärter! Warum nur kann der Fischhändler in dieser Nacht reden?

Unter der Gewalt des nächtlichen Sturms biegt und windet sich das Turmgehäuse, Thea klammert sich bei ihrem Aufstieg eng an die Wand, ganz vorsichtig hält sie ihre Puppe Doro. Vor ihren Augen tanzen die Treppenstufen. Aber von oben lockt das warme Licht, wird stärker bei jedem Schritt.

Am Ende der Steige finden sie die Tür zu einem Austritt zum weiten Ausblick über Berge und Ebene.


Und sie schauen: Ihre Blicke folgen dem leuchtenden Strahl, der die nachttrunkenen Felder und Wiesen berührt und verwandelt in blinkende Wogen und Wellen, leise atmet ein silberner Strom, der an den Fuß der Berge brandet, unten in Thale...........

Wie Inseln darin liegen Quedlinburg und Nachterstedt vor ihnen, ein Dampfer klein wie ein Spielzeug quert die nächtliche See, Musik und Lichter schimmern auf, die Luft hat sich beruhigt..... Doro klatscht in die Hände und jubelt, sie ruft: Hurra, die Süsse See! Über ihr kreischt eine weiße Möwe.


Im Morgengrauen verlöschen die Feuer auf den Bergen, kurz vor Sonnenaufgang erstarrt das nächtliche Meer zu Felsen und Hügeln und Wäldern. Dazwischen sprießt frisches Grün und bunte Blüten, die Quellen sprudeln, die Bäche plätschern, die Brunnen rauschen, von den Bergen herab durchquert der Fluss die weite Ebene und ergießt sich in den salzigen Ozean.

Und Thea sagt zu ihrer Puppe: Komm, wir gehen zum Meer!


Thea und Doro sind nicht in die finstere alte Stadt zurückgekehrt, auch den Fischhändler hat man dort nie wieder gesehen.



Hier endet der 235. Eintrag: Dieser Blog mischt Fiktion und Realität. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind zufällig und in der historischen Überlieferung nicht verbürgt. Ich bin nur der Navigator, mein Name sei NEMO:

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Geschrieben von

archinaut

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