Mies weint (repost)

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aus dem Blog in der FreitagCommunity am 12.09.2009

Dieser Blog kommt aus der Zukunft. 09.07.20??

Seit vorgestern liegt der archinaut: am Berliner Schlossplatz. Ludwig Mies van der Rohe will heute auf die Baustelle gehen und nach Arbeit fragen. Wir brauchen dringend Geld.

„Was willst Du anbieten,“ fragt John „The Brain“, „Du bist doch Architekt...... gehst Du als Landvermesser?“ Peggy horcht auf und rezitiert: „Das Schloss hatte ihn also zum Landvermesser ernannt. Das war einerseits ungünstig für ihn, denn es zeigte, dass man im Schloss alles Nötige über ihn wusste, die Kräfteverhältnisse abgewogen hatte und den Kampf lächelnd aufnahm.....“ „.....Kafka“ pfeift Jünger leise durch die Zähne. Gelegentlich versetzen ihn die amerikanischen Freunde doch in Erstaunen.

„Ein Steinmetzmeister hat mich gezeugt, als Steinhauer will ich es probieren,“ sagt Mies, „am Stein kann ich mich messen, Schlag für Schlag.....“ „Va bene, vielleicht kann ich Dir helfen,“ John’s Mobiltelefon ist groß und schwer wie ein prähistorischer Knochen, vielleicht ist eine Schusswaffe mit Schalldämpfer integriert...: „Pronto....“ dann verhandelt er mit verschiedenen Personen.

„Früher haben die Polen die Baustelle kontrolliert, aber jetzt Du musst zu den Iren gehen,“ erklärt er nach dem Gespräch und nennt das Passwort. Alle wünschen Mies viel Erfolg, als er unseren Tourbus verlässt.


Das Gravitationsfeld einer lebendigen Baustelle wird von Vibration und Bewegung geprägt, leise Erschütterungen niedriger Frequenz pulsieren durch den Inselboden zwischen den Flussarmen der alten Spree. Während Mies langsam hinübergeht, wird durch den verhalten bebenden Erdkörper eine vage Erinnerung an den Dampfer geweckt, mit dem sie damals die Staaten erreichten. Schritt für Schritt verdichtet sich der Lärm der Baustelle zu einem Konzert extremer Frequenzen, synkopische Takte und Rhythmen, eine gewaltige akustische Dunstglocke konstruktiven Krachs brandet über der Fläche, Aggregate, Pumpen, Schneid- und Schweißgeräusche, Schlagen, Klopfen, Hämmern in vielstimmiger Variation.

Der Ursprung der mächtigen Lärmbrandung wird umgrenzt von einer Mauer gefügt aus standfesten Betonsegmenten, weit über Raumhöhe dimensioniert verhindern sie Angriff oder Einblick aus jeder Richtung, die oben abschließende Betonröhre weckt bei Mies diffuse Erinnerungen. In welcher Zeit sind wir gelandet, fragt er sich immer wieder, Wachtürme, Kameras, Verbotstafeln, Hinweise auf strenge Bußgelder, immer wieder die großen Lettern HOCHMETALL, HM als Logo.

Dann ein Tor, eine Schranke, eine Sichtluke in einer Stahlwand, zwei Männer mit schwarzen Helmen, das Logo HM goldgeprägt, kräftige Stiefel und Schlagstöcke, sie fragen: „Parole?“, Mies erwidert das Passwort, wie es ihm von John benannt wurde: „Ein Euro!“, er bekommt einen gelben Helm in die Hand gedrückt, einen gelben Stern an die Brust geheftet und darf passieren.....


Vielleicht zwei Stunden bleibt Mies fort.......als er zum archinaut: zurückkehrt, wirkt er verändert und abwesend. Wir sind neugierig, Mies aber bleibt nachdenklich. Er redet nicht über seine Erlebnisse auf der Baustelle. Er könnte beschreiben, was er sah, aber ihm fehlen noch Begrifflichkeiten für das, was er auf der Baustelle vermisst hat: Mies kann die Schlossbaustelle nicht verstehen.

Vor seinem inneren Auge läuft der Film wieder ab: Gerüste, Baucontainer getürmt bis in die vierte oder fünfte Ebene, mächtige Stapel von Baustahl, Schalungselemente in vielen Größen, Stahlträger, Stangen und Bohlen, Rohre, Schläuche und Kabel in allen Stärken, Sand- und Kiesaufschüttungen, Planen, Sackware, Paletten, Schienen- und Krannlagen, Generatoren und Pumpen verschiedenster Substanzen, die Gasflaschen der Schweißer, Stahltreppen und –stege quer durch das Areal, Dämmmaterial in schwarz, gelb und blau füllen einen Raum wie von Piranesi erfunden....... vages Dämmerlicht erreicht den unsicheren Grund, eine trübe Wasserfläche sammelt sich aus Lachen und über Gruben. Diese Baustelle ist ein stampfender, vibrierender Maschinenraum einer Produktionsanlage, ein freies Baufeld ist nirgendwo zu erkennen.

Die HM-Leute beherrschen den Ort offensichtlich, sie bewegen sich langsam wie satte Echsen, wachen über blau schimmernde Monitore und strahlen Kälte ab. Mies fragt die Eisenflechter nach dem Weg, sie kommen aus der Ukraine und können ihm nicht helfen. Sie verstehen ihn nicht, wahrscheinlich ist es einfach zu laut.

Es dauert lange, bis Mies die Iren findet. Ihre Helme leuchten weiß, sie spielen Karten, einige Kollegen montieren ein Gerüst. Mies fragt nach den Steinen. Die Schlossfassade soll aus Sandstein gehauen werden, das hat er gehört.

Aber die Iren schütteln den Kopf. Ein-Euro-Leute dürfen nicht an den Sandstein. Das sei zu gefährlich, sagt einer. Die deutschen Gesetze sind dagegen, sagt ein anderer, Ein-Euro geht nur als Bauhelfer. Er schreit an gegen das helle Klackern der Meißel.

Irgendwo im Dunkel hat Mies sie dann gesehen......... die mächtigen Sandsteingebinde, geschichtet wie von Giganten, davor im Lärm, im Staub nackte flinke Füße, geschickte Hände..............

Mies mag nicht darüber reden, was er auf der Schlossbaustelle vergeblich gesucht hat. Und er möchte vergessen, was er gesehen hat. „Ich bin einfach zu alt...“ sagt er uns schließlich mit belegter Stimme, und es scheint fast, als ob er eine Träne verdrückt.

Er wird uns nie verraten, dass er dort im Schatten der Steine chinesische Wanderarbeiter erkannt hat, Mädchen wie Jungen

nicht älter als zehn oder höchstens zwölf Jahre.



Hier endet der 13. Eintrag: Dieser Blog ist fiktiv und getrieben von automatischer Niederschrift. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind zufällig und in der historischen Überlieferung nicht verbürgt. Ich bin nur der Navigator, mein Name sei NEMO:

Ich schreibe um unser Leben. Bitte bleiben Sie dran.


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Geschrieben von

archinaut

Ein Blick weitet den Horizont: Dieser Blog zieht um die deutschen Häuser

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