Monolog zu Babel

Im archinaut: Mies van der Rohe erinnert sich an einen Traum aus seiner Kindheit

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Gereizt hat El Lissitzky noch ein vergilbtes, schmales Heft auf den Tisch geworfen: „Eine Laudatio zum Hundertsten habe ich mir anders vorgestellt!“ Mies blättert und liest lautlos, er möchte El nicht mit unangenehmen Erinnerungen quälen:

Die Realisation als Tod der Idee (Benjamin) musste auch El Lissitzky erfahren. In seiner Selbstverwandlung vom Künstler zum „Konstrukteur“ des „neuen Seins“ war Dienstbarkeit für die „Sache“ vorprogrammiert. Die zermürbenden Korrekturen der eigenen Vorlagen oder die demütigenden Begutachtungen durch allwissende Redakteure in den letzten Lebensjahren des Künstlers offenbarten den längst vollzogenen Abstieg der „geistigen Konstruktivität“ auf die Ebene ideologischer Nützlichkeit. Das Janusköpfige seiner eigenen Kunstideale mag Lissitzky noch schmerzhafter empfunden haben. Die nachfolgenden Künstlergenerationen bezahlten die avantgardistische Sehnsucht nach universeller Gültigkeit künstlerischer Arbeit, nach Objektivität, mit Einschränkung ihres kreativen Lebensanspruchs. Auch in El Lissitzkys letzten Entwürfen ist der Erfinder der Prounen nur noch schwer auffindbar......

Deine Vision ist nicht gestorben.... denkt Mies, auch wenn die Korrekturen der Allwissenden Dich gedemütigt haben.....

„Kannst Du Dich erinnern, wann Du das erste Mal vom Turm Babel gehört hast?“ fragt Mies nach einer Weile, „ganz früh erzählte man bei uns zu Haus den kleinen Kindern diese alte Geschichte..... streng katholisch wurden wir unterrichtet, mit der steten Mahnung an die jugendliche Hybris: Ihr dürft nicht zu hoch bauen!“

„Mein Vater war Steinmetz...... bin ihm oft zur Hand gegangen, in der Werkstatt, aber auch auf den Gerüsten draußen, wenn er mit den Gesellen am Stein war, vor steilen Strebepfeilern oder farbigen Rosettenfenstern..... irgendwo zwischen Himmel und Erde..... hing er da an einer Kreuzblume oder unter einer Gargyle.... Schlag um Schlag, fast ohne jedes Wort....“

Mies schweigt für eine längere Pause.

„Damals konnte ich den Turm zu Babel sehen, wenn ich abends im Bett die Augen schloss: Spannseile und Strebewerk halten die Kräfte im Inneren, weil der Turm das Licht sucht wie die gotischen Gewölbe, wie das Freiburger Münster...... Meister und Gesellen folgen dem Stein und seinen Kräften, der Last, dem Druck, dem Wind und dem Licht.... als ob der Turm ihnen etwas flüstere, älter als Babylon... “

Mies muss lächeln.

„Als wir später am Seagram gearbeitet haben, dachte ich manchmal an diesen Kindertraum.... so eindrücklich hatte ich erlebt, dass niemand als Monade existiert, sei man noch so fleißig oder talentiert.... der Weg war weit: ohne die junge Studentin wäre ich nie zu einem Auftrag in New York gekommen, der uns allen Brot gab wie eine Bauhütte.... Gropius hat sein erstes Büro in den Staaten als Kollektiv gegründet....“

„Für uns bedeutet dieser Turm die Welt.... wie der große Misthaufen für die Fliegen.....“ lacht Mies kurz auf, „vielleicht wird das Gleichnis aus der Bibel falsch gedeutet?“

„Die Steine reden, stelle ich mir vor: Der Turm spricht in tausend Stimmen, die Sprache der Liebenden, der Mutigen, der Stolzen..... aber auch die Sprache der Besiegten, der Besorgten, der Gedemütigten und Unterdrückten.... und wer mit dem treffenden Ton angesprochen wird, versteht den Auftrag... Ist es nicht die grausamste Strafe, einander in der eigenen Muttersprache fremd zu werden?“

Keine Antwort von El.

Erst jetzt entdeckt Mies, dass nur ein letztes Kerzenlicht noch zwinkert, das andere hat der Reisegefährte versehentlich gelöscht.

El Lissitzky schläft.



Hier endet der 138. Eintrag: Dieser Blog mischt Fiktion und Realität. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind zufällig und in der historischen Überlieferung nicht verbürgt. Ich bin nur der Navigator, mein Name sei NEMO:

Ich schreibe um unser Leben. Bitte bleib dran.


Textpassagen kursiv

von Dr. Hiltrud Ebert

Kunstwissenschaftlerin

Mitglied der Jury „Hommage à Lissitzky“

Kunsthochschule Berlin


zit. nach:

Dokumentation

zum Wettbewerb

Hommage à Lissitzky

AusstelIung vom 1. bis 30. November 1990

im Palais am Festungsgraben

Veranstalter

Kunsthochschule Berlin

Verband Bildender Künstler e.V.

Palais am Festungsgraben

(Interclub Berlin)

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Diesen Text widme ich einem Käuzchen mit vielen Zungen:

hibou

Dieser Blog mischt Fiktion und Realität. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind zufällig und in der historischen Überlieferung nicht verbürgt. Ich bin nur der Navigator, mein Name sei NEMO:

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Geschrieben von

archinaut

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