Nacht in der Weißen Stadt

Strandfeuer - Wenn es Abend wird, suchen wir einen sicheren Ort: Die Nacht in der Weißen Stadt

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Liebe Freunde, nicht jede und nicht jeder von Euch hört gerne Geschichten über Kinder... die Orientierungsphasen unserer Jugend, wer also mit wem, geneigt welchem Geschlecht, haben unsere Freundschaften weniger belastet als die Kinderphase: mit Kindern werden wir zu Eltern, und für die Welt der Paare sind wir verloren, für Platons Kugelmenschen, die ihre fehlende Hälfte noch suchen oder sich gerade gegenseitig sehnsuchtsvoll umschlingen... manche von Euch haben sich gegen Kinder entschieden, nicht immer aus freier Wahl, habt also keine Scheu, sucht das Weite, macht einen Spaziergang draußen an der Promenade, wenn Euch die Luft hier zu stickig ist, Ihr hört auch das Gelächter aus der Halle unten, vor dem Kamin erzählen sie bestimmt von Abenteuern aus der weiten, bunten Welt.... sie sind fröhlich, hört Ihr?

Als wir das erste Mal in diesen Ort kamen, waren unsere Nerven und Gedanken aufgewühlt, unsere Herzen erschöpft von den Strapazen der Reise.... unsere kleine Tochter war ständig hungrig, seit zehn Monaten kannten wir keinen Schlaf mehr, nur unruhige Schlummerphasen, stets sprungbereit für das aufsässige junge Leben, das sich da entschlossen hatte, einen neuen magnetischen Pol in unserer unerklärten Ehe zu erobern: Besonders wirkungsvoll im großen Bett genau zwischen uns... wisst Ihr eigentlich noch, wie die warme Muttermilch schmeckt?

So, jetzt wir sind unter uns, nehme ich an....

Der letzte Reisetag hatte ein Streitgespräch zwischen meiner Liebsten und mir entfacht, das sich immer weiter und tiefer in unsere Gedanken fraß wie ein Waldbrand, die Glut im Unterholz wird durch jeden kleinen Windhauch neu belebt... Todholz gibt kräftig Nahrung, auch die grünen Triebe werden zu Asche verbrannt...

Es passte zum Wetter wie zu unserer Stimmung, dass ein feiner kühler Regen eingesetzt hatte, als wir die Weiße Stadt am Meer erreichten. Im Casino roch es nach alter Bockwurst, missmutig starrten die vielgerühmten Strandvillen aus zerrupften Fensterläden auf eine strenge, nordische Ostsee. Vor zwei Jahren war die Ferienkultur der Demokratischen Republik untergegangen, und die Plagen der neuen Zeit hatte den abgelegenen Ort hinter dem Kiefergürtel noch nicht erreicht. Man sagt so leicht: Hier ist die Zeit stehen geblieben.... aber die Wahrheit ist doch: Ein Badeort ohne Badegesellschaft liegt im Koma.

Trotz Hochsaison war es nicht schwer, Unterkunft zu bekommen, im letzten Haus jener Reihe entlang der verwitterten Promenade, ein geräumiges Zimmer mit Waschbecken, aber nicht mit Blick aufs Meer. Vor dem Haus trockneten bunte Handtücher an einer Leine, der Tagesraum wartete leer und verwaist.

Man konnte mit dem Auto dicht heranfahren, um den reisenden Hausstand hinaufzuschleppen, der unter anderem großvolumige Windelpakete und Babynahrung samt Erwärmungsgeräten umfasste....

Aber alles war falsch.

Bitterlich beschwerte sich meine Liebste über die Unzumutbarkeiten dieser Reise, über die lange Fahrt, über die trostlose Unterkunft und über mein mangelndes Verständnis: Wir brauchen Ruhe, Sonne und Strand!

Es war inzwischen dunkel geworden, und ich weiß heute nicht mehr, ob wir noch die gastronomische Einrichtung des Ortes aufsuchten, ich vermute, dass wir uns an diesem Abend aus dem Proviant versorgten.

Ja, unser Leben hatte sich auf eine nicht vorhergesehene Weise verändert. Mit einem gewissen Fatalismus hatte ich in den vergangenen Monaten registrieren müssen, dass obskure Kräfte den Kompass meiner Liebsten neu genordet hatten.... oder war es ihr freier Wille?

Vor der Geburt war sie noch ganz sicher gewesen, hatte einen Termin mit einem Freund vereinbart: In sechs Wochen komme ich und arbeite in Deinem Büro, mindestens vier Stunden am Tag! Ein halbes Jahr später hatte sie ihm telefonisch abgesagt, ein neues Wesen war in ihr Leben getreten, eine kleine Kugelmenschin, die mit sehnsüchtigem Verlangen an ihr hing, und sie schlangen die Arme umeinander und hielten sich umfasst, voller Begierde, wieder zusammenzuwachsen....

Aber sie sie starben nicht vor Hunger, wie Platon gewarnt hat, sondern sie nährten einander bis in den tiefsten Grund ihrer Seelen.

.... darüber hinaus gibt uns ein Kind die Möglichkeit, unsere eigene Kindheit zu korrigieren. Und Kinder holen unsere besten Seiten hervor, als Mutter oder Vater gefallen wir uns dann selbst gleich viel besser, sagt Zeruya Shalev in einem SPIEGEL-Interview.

Diese zerfallende Villa zwischen Wald und Meer war ein stimmiges Bild für den Zustand unserer Liebe. Wir waren kein Paar mehr, und wir waren noch nicht Eltern. Wir sind so verschieden.... Welche Zukunft sollten wir bauen? Die Zukunft einer Familie oder eine andere, die meinen eigenen Vorstellungen entsprach? Zwischen uns lag ein zufriedener Säugling im breiten Bett und schnarchte ganz leicht.

Und in das Dunkel hinein sagte ich leise: Wir müssen uns trennen.... und ich wusste doch, dass sie wach liegt, auch wenn sie jetzt schwieg.




Prolog zum Gastmahl am Meer

menschenlippen, menschenhaut

Begrüßung der Gäste

Vorstellung der Weißen Stadt

Das Leben ist eine Reise

Nach Osten

Weiße Stadt am Horizont

Nacht in der Weißen Stadt

Weiße Stadt – Im Lauf der Zeit

Stärker als der Tod – Hochzeit Blau



Hier endet der 259. Eintrag: Dieser Blog mischt Fiktion mit Realität. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind zufällig und in der historischen Überlieferung nicht verbürgt. Ich bin nur der Navigator, mein Name sei NEMO:

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Geschrieben von

archinaut

Ein Blick weitet den Horizont: Dieser Blog zieht um die deutschen Häuser

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