Parlament der Städte

Ende der Nationen: Über 50 Millionen Menschen sind weltweit auf der Flucht – ist es nicht an der Zeit, die überkommene Idee des Nationalstaats in Frage zu stellen?

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Foto: Spencer Platt/AFP/Getty Images
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Vom östlichen Mittelmeer bis fast zum Kaspischen Meer entsteht ein Korridor kaputter Staaten und todkranker Nationen. Der Irak ist jetzt, allein schon mit seiner Armee, die bislang noch in jedem Ernstfall desertiert ist, auf geradem Weg in den "failed state". Das große, alte Syrien gleich daneben wirkt wie ein Land ohne Zukunft, eine Wiege künftigen Hasses, eine schwärende Wund, schreibt Ullrich Fichtner in einem Kommentar zur Besetzung der irakischen Stadt Mossul unter dem Titel Eskalation im Irak: Feindliche Übernahme.

Der Kommentar beschwört die Bilder einer friedlichen Metropole Mossul, die vor gut zehn Jahren noch eine Modellstadt hätte sein können: für die Zukunft eines neuen Irak, ja: eines neuen Arabien. Muslime und Christen lebten Tür an Tür, Kurden und Araber studierten gemeinsam an der Universität, und die Amerikaner, die im Frühjahr 2003 für kurze Zeit die Macht übernahmen, waren noch nicht verhasst. Sie fuhren in offenen Humvees herum und saßen ohne Helme in Teestuben. Es war eine andere Zeit.

Nein, wir fragen jetzt nicht, warum die Amerikaner in offenen Humvees herum­fuhren und ohne Helme in Teestuben saßen, und wir fragen hier auch nicht, ob dieses schön beschriebene Mossul bald untergeht, wie Fichtner schreibt, ins Chaos gestürzt von Dschihadisten, die davon träumen, Kalifate zu begründen, in denen die allerprimitivste Auslegung der islamischen Lehren gelten soll. Wir zitieren lieber Jürgen Habermas: Heute wächst der Fundamentalismus auf allen Seiten und macht die Konflikte heillos – im Irak, in Israel und anderswo.

Habermas erläutert den Gedanken von Carl Schmitt, dass die Ächtung der Angriffs­­kriege den Krieg selbst zum Verbrechen gemacht habe; der moralisch verurteilte Gegner sei zum verabscheuungswürdigen Feind geworden, der ver­nichtet werden muss. Wenn man sich im Zuge dieser Moralisierung gegenseitig nicht mehr als ehren­werten Gegner – als justus hostis – achtet, entarten die be­grenzten Kriege zu totalen Kriegen, folgert Habermas in einem Interview mit Eduardo Mendieta (Wege aus der Weltunordnung, Blätter für deutsche und internationale Politik 1/2004)

Nein, wir müssen uns fragen, wie wir uns und die uns nachkommen einer herauf­ziehenden weltweiten Polarisierung entziehen können, einer ungerechten Verteilung von Wissen, Macht und Ressourcen, die sich scheinbar selbst­be­fruchtend von Jahr zu Jahr, von Monat zu Monat exponentiell aufstockt, aber täglich schwieriger und aufwendiger zu verteidigen ist.

Der Reichtum Deutschlands wird nicht nur weit weg am Hindukusch verteidigt, sondern auch vor einer Schulruine mitten in Berlin-Kreuzberg. Aber dieser Reichtum ist nur geborgt, der soziale Friede bleibt fragil, solange Menschen aus gefährdeten Regionen aufbrechen und in den Wohlstandsgesellschaften einen sicheren Ort suchen, vielleicht auch einen Ort zum Bleiben. Der Prozess ist unumkehrbar und auf lange Sicht nicht aufzuhalten. Das wissen wir nicht erst seit dem Fall der Mauer.

In dieser Woche konnten noch 900 Polizisten gegen die letzten 50 Refugees in der Kreuzberger Schule eingesetzt werden… eines Tages wird sich das Zahlenverhältnis vielleicht umkehren. Auch wenn wir den Ausgang der Konfrontation zwischen der Staatsgewalt und den verzweifelten Flüchtlingen auf dem Dach der Gerhard-Hauptmann-Schule noch nicht kennen, wissen wir doch, dass es dringend erforderlich, die rigiden, menschenverachtenden Gesetze und Praktiken der Abschiebung von Flüchtlingen zu ändern und neue Wege zu eröffnen.

Die Vereinten Nationen sollten abgelöst werden durch ein Parlament der Städte, schreibt Georg Diez in einer hellsichtigen Spiegel-Kolumne: In der Stadt ist man näher an den Problemen, in der Stadt ist man effektiver beim Nachdenken, wie man es anders und besser machen könnte, in der Stadt findet man über das Trennende ein gemeinsames Gespräch, weil die Muster des urbanen Lebens über die Kontinente hinweg viel ähnlicher sind als die Unterschiede von Geschichte oder Kultur.

Die Belagerung der Flüchtlinge in der Kreuzberger Schule bezeichnet Diez als Debakel und Skandal: Hier kulminiert das, was schief gehen kann in den urbanen Konfliktzonen - hier ist aber auch der Ort, um diese Konflikte publik zu machen, sie auszutragen und Lösungen zu finden. Und hier zeigt sich ganz konkret, was passiert, wenn Bundesgesetz auf Stadtrealität prallt: Eine nationale Ordnung, die zu lokalem Chaos führt, das ist die Konsequenz aus der alten Art, mit solchen Problemen umzugehen.

Parlament der Städte – was für eine faszinierende Idee!

Das Konzept eines Nationalstaats hat immer eine von Menschen gestaltete Grundlage, ein historisches, kulturelles oder sprachliches Konstrukt als Kulturnation oder einen Vertrag als Willensnation, die synthetische Denkfigur Nation diente der Akkumulation von gemeinsamen Interessen, nicht zuletzt zur Überwindung der Kirchenmacht…. Die wirkmächtige Fiktion einer gemeinsamen Nation hat die Vereinigten Staaten von Amerika zu politischer und wirtschaftlicher Größe geführt, die Definition der Nationalstaaten hat Europa kulturelle Blüten, aber auch finstere Jahre beschert…. und sollte in der Welt von heute und morgen, in einer Welt übernationaler Katastrophen und global operierender Konzerne, in einer Welt, die ethnische, konfessionelle und ideologische Grenzen zwischen den Gruppen der Gesellschaft überwinden muss, keine Verpflichtung mehr haben, territoriale Grenzen zu ziehen oder zu verteidigen.

Das Labor Stadt ist eine großartige kollektive Schöpfung, die sich seit etwa 10.000 Jahren in fortwährender Entwicklung befindet und dabei Kultur und Zivilisation produziert…. Kann es nicht jeder Bürgerschaft selbst überlassen werden, welche Zukunftsstrategie sie einschlägt, welche Bündnisse sie schließt und wie viele Gäste und Zuwanderer sie begrüßen möchte, welche Ethnien und Glaubens­rich­tungen sich mit Märkten und Gewerbe, mit Andachtsstätten und Friedhöfen ansiedeln? Wachstum und Entwicklung einer Stadt sind nur mit Zuwanderung möglich.

Die Stadt bildet die Schwelle vom Mittelalter zur Neuzeit, schreibt Georg Diez in seiner Kolumne, sie war schon in der Antike der Ort, an dem sich Wissen, Identität, Bürgerstolz bildeten, sie war immer Miteinander und Durcheinander und Aufklärung, sie war Emanzipation und Toleranz, sie war ein Labor für die Konflikte ihrer Zeit, und sie trug ein Versprechen im Namen, das hieß: "Stadtluft macht frei".

Die polykulturellen Stadtorganismen bieten vielfältige Modelle und Programme für unsere soziale Zukunft, in der die meisten Menschen eine urbane Lebensweise wählen werden…. und die Städte werden um Migranten werben, wie sie es immer getan haben: erfolgreich seit wohl 10.000 Jahren.


Nachtrag zum Eintrag vom 04.11.2012: Hinter uns liegen die Chronolysen (in vier Akten)... die Timeline im Blog archinaut: ist inzwischen justiert. Dieser Blog berichtet aus Deiner Welt. Ich bin nur der Navigator, mein Name sei NEMO:

Ich werde Euch nicht schonen. Öffne Deine Augen.

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archinaut

Ein Blick weitet den Horizont: Dieser Blog zieht um die deutschen Häuser

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