Schere im Kopf

Elternhaus: Charlottenburg, Wilmersdorf, Schöneberg waren damals durch unbebaute Felder von Berlin getrennt... mein Urgroßvater schrieb seine Erinnerungen an meine Hochschule auf

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Fast dreißigtausend Studentinnen und Studenten verzeichnen die aktuellen Listen der Technischen Universität Berlin, wie eine kleine Stadt in der Metropole siedeln die Institute und Labore der TU-Berlin zwischen dem grünen Tiergarten, dem Landwehrkanal und der Gründerzeitstadt Berlin-Charlottenburg, und in einigen Räumen brennt das Licht die ganze Nacht.

Nach zwei Semestern musste ich Marburg verlassen, weil mein Herz unangenehme Erscheinungen zeigte. Ich setzte meine mathematischen Studien in Berlin fort und wurde dort mit Studenten der Technischen Universität bekannt, schrieb mein Urgroßvater für seine Nachkommen auf. Je mehr ich mich in diese Arbeiten hineindachte, desto klarer wurde es mir, dass meine Neigungen viel mehr dem technischen als dem rein mathematischen Fach gehörten. Nach weiteren zwei Semestern hatte ich mich dazu durchgerungen, es meinem Vater zu gestehen. Von meinen vier mathematischen Semestern konnten mir nur zwei angerechnet werden und da außerdem das technische Studium zwei Semester länger dauerte als das mathematische, so bedeutete das eine Verlängerung meiner Studienzeit um vier Semester. Bei einem Handwerksmeister mit sieben Kindern, die alle etwas lernen sollten, war das kein leichter Entschluss, um so mehr, als gerade damals in allen Zeitunen vor dem technischen Studium gewarnt wurde, weil der Beruf überfüllt sei. Aber mein Vater sagte nur: „Mein Junge, das musst Du wissen“, und damit war die Sache entschieden.

Ich ließ mich also Ostern 1886 auf der technischen Hochschule in Charlottenburg einschreiben und studierte Bauingenieurwesen. Der Brückenbau und die damit in Zusammenhang stehendenBerechnungen lockten mich ganz besonders. Winckler und nach seinem Tode Müller-Breslau waren meine Lehrer. Die Hochschule war infolge der vielen Warnungen äußerst schwach besucht, die Zeichensäle fast leer.

Damals hatte Berlin etwa eine Million Einwohner. Die Vororte Charlottenburg, Wilmersdorf, Schöneberg waren noch nicht eingemeindet und zum Teil noch durch unbebaute Felder von Berlin getrennt. Die Stadtbahn war drei Jahre vor meiner Ankunft eröffnet worden. Der Bahnhof Zoo lag schon außerhalb der bebauten Flächen, und die meisten Züge kehrten dort um. Mit dem Bau eines Rohrnetzes für die Abwässer hatte man eben erst begonnen. Auch das Pferdebahnnetz war noch nicht vollständig ausgebaut. Berlin stand noch im Zeichen des Weißbiers. Der Tiergarten war damals noch mehr wald- als parkähnlich, und wer seinen Morgenspaziergang in ihm machte, konnte dem eisernen Kanzler begegnen hoch zu Ross und nur von einem Diener gefolgt. Die Eisbahn auf dem Neuen See wurde auch vom Hofe benutzt, und der Kronprinz (der spätere Kaiser Friedrich) lief dort gern und mischte sich unter seine Berliner, die ihn sehr verehrten. Den alten Kaiser konnte man täglich an seinem Eckfenster stehen sehen, wenn er den Vorbeimarsch der Wachtparade beobachtete.

Einmal sah ich ihn dort auch zu ungewohnter Zeit. Ich ging auf meinem Weg zur Hochschule an dem Fenster vorbei, als ich hörte, wie eine Scheibe klirrend zu Boden fiel. Ein Schwachsinniger hatte einen Stein in das Eckfenster geworfen. Aber ehe ich mich recht besinnen konnte, war er schon von zwei Polizisten gefasst und abgeführt, noch bevor irgendwelcher Auflauf entstehen konnte. Unmittelbar darauf erschien der Kaiser am Fenster und betrachtete kopfschüttelnd die zerbrochene Scheibe.


Hundert Jahre später bin ich als Architekturstudent an der Technischen Universität eingeschrieben. In jedem Semester beginnen dreihundert potentielle Konkurrenten ihr Studium an der Architekturfakultät, die stolz ihre wilden Glas- und Betonflächen hoch über den Ernst-Reuter-Platz erhebt. Es heißt, dass der Architekt mit seinem Entwurf an Segel und Takelage eines Vollschiffs erinnern wollte. Die Assistenten warnen uns: Wir sind froh, dass wir einen Job hier an der Uni gefunden haben, die meisten unserer Freunde aus den Studienzeiten müssen Taxi fahren!

Vorlesungen, Seminare, Übungen: Nachmittags leert sich das Haus, man trifft sich zum Essen oder zum Kino, wenn nicht ein Abgabetermin drängt.

Die Arbeitsräume stehen uns offen, aber kaum jemand nutzt diese Möglichkeit. Irgendwann bin ich allein mit meinen Zeichnungen, die letzte U-Bahn fährt kurz nach Mitternacht.

Gelegentlich habe ich sie verpasst. Das riesige Haus steht leer, nur die Lüftung singt ein monotones Schlaflied im Duett mit den Neonleuchten.

Dann kommt er manchmal.

Ein hagerer Mann mit langen Haaren, wildem Bart und roten Augen, gekleidet wie eine Vogelscheuche. Kommt in den Raum ohne ein Wort, siehtmich nicht, sieht nur den großen Papierkorb, übervoll, den ersten, sucht den zweiten. Zückt eine Schere, lang wie eine Axt, blank im Chrom und glänzend, greift Stück für Stück aus dem Papierkorb, schnell und schnipp, schneidet jedes Stück exakt in der Mitte durch schnipp und lässt es wieder fallen.... sieht mich nicht, murmelt mit starrem Blick....ich bin still.

Tagsüber habe ich ihn nie gesehen, nicht im Gebäude der Architekturfakultät, noch in den anderen Gebäuden der Universität, einer verwinkelten Stadt für dreißigtausend Studenten. Ob er irgendwo ein heimlich warmes Schlafplätzchen bewohnt? Welcher Fluch treibt ihn?

Als ich eines Morgens früh unseren Arbeitsraum betrete, liegt dort die riesige Schere im Licht der Morgensonne, dass durch die großflächigen Scheiben fällt. Ich zögere einen Moment, dann nehme ich das chromglänzende Schneidwerkzeug an mich.

Die Schere besitze ich noch heute, es ist die größte, die ich je gesehen habe. Ich hoffe, es geht ihrem früheren Eigentümer jetzt besser.

Die Schere erinnert mich daran, dass der Faden der Erinnerung hinter uns abgeschnitten wird, Tag für Tag. Mein Urgroßvater konnte seine Erinnerungen für mich aufschreiben, ohne dass er mich je kennen lernte. Aber ich werde ihn nie erreichen.

Jeder neue Gedanken braucht ein neues Wort. Können wir mit unseren gewohnten Worten einen neuen Gedanken fassen?



Hier endet der 187. Eintrag: Dieser Blog mischt Fiktion und Realität. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind zufällig und in der historischen Überlieferung nicht verbürgt. Ich bin nur der Navigator, mein Name sei NEMO:

Ich schreibe um unser Leben. Bitte bleib dran.


Next

Back

Klick zum Gästebuch

Dieser Blog mischt Fiktion und Realität. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind zufällig und in der historischen Überlieferung nicht verbürgt. Ich bin nur der Navigator, mein Name sei NEMO:

Ich schreibe um unser Leben. Bitte bleib dran.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

archinaut

Ein Blick weitet den Horizont: Dieser Blog zieht um die deutschen Häuser

archinaut

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden