Steinmetz’ Tochter

Brief: ... wo ich bin, kannst Du nicht sein

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Meine Liebe,

gerade haben wir telefoniert, aber es ist nicht alles gesagt.

Ist doch noch zu früh..... so schreib ich’s auf, die Gedanken zu ordnen, ohne zu wissen, wann ich Dir diesen Brief senden will. Ich möchte nicht, dass Du einen Vorwurf herausliest, wo Hoffnung und Dank sein soll. Außerdem weiß ich ja, dass Du lange Briefe hasst.

Du bist häuslich geworden, für unsere Kinder hast Du Deinen kleinen Laden aufgegeben, zwölf Jahre schon zu Hause, auch wenn die Zeit schnell vergangen ist.... wie im Flug sagt man so.

Du bist aus einer Handwerkerfamilie, die Tochter des Steinmetz’, und darauf bist Du immer stolz gewesen. Deine Mutter hat die Steine bestellt, Dein Vater Marmor geschlagen und Granit poliert. Deine Mutter hat die Rechnungen geschrieben und das Finanzamt am langen Zügel geführt, Du hast alles von ihr gelernt... und diese Arbeitsteilung bei Deinen Eltern schien mir lebensklug und pragmatisch, gefiel mir gut als Lebensmodell für ein Paar, vielleicht weil die Rollenverteilung in meinem Elternhaus anders war.

Von der kleinen Stadt, in der Du geboren bist, schwärmst Du noch heute. Nach dem Tod Deiner Mutter hast Du Dein Elternhaus vermietet. Wenn man nach Deiner Heimat fragt, ist die Antwort klar.

Als ich in Quedlinburg anfing, habe ich gedacht, dass es Dir auch hier gefallen könnte.... die Stadt ist klein, aber wunderschön.... man lernt schnell die Leute kennen, als ob die Dichte der Kleinstadt auch eine andere Nähe der Menschen fordert, man reibt sich aneinander, bestärkt einander aber auch... seit zwei Wochen blühen die Bäume zwischen den bunten Häuschen am Südhang des Schlossbergs, die Schönheit, die ich hier jeden Tag sehe, würde ich so gerne mit Dir teilen, aber ich muss natürlich respektieren, dass Du die Großstadt nicht mehr für die Kleinstadt verlassen willst. Ihr wollt in Berlin bleiben, Du und die Kinder.... So müssen wir also zwei Haushalte führen. Die Wohnung ist groß genug, das ihr jederzeit kommen könnt!

Ein französisches Sprichwort sagt: Wer zwei Frauen hat, verliert sein Herz, wer zwei Häuser hat, verliert seine Seele.... aber das gilt bestimmt heute nicht mehr, wo die Straßen und Züge dieser Republik am Montagmorgen und am Freitagabend von Wochenendpendlern geflutet werden.

Die Arbeitstage sind oft sehr anstrengend, und vielleicht ist es sogar einfacher für mich, wenn Ihr nicht hier seid.... kann ich abends doch länger im Büro bleiben, ohne ein schlechtes Gewissen zu haben.

Es war meine Hoffnung, dass Du unsere Buchhaltung machst, wie früher in Berlin... aber Du müsstest sehr viel lernen, zwölf Jahre ohne Berufsarbeit im Team sind eine lange Zeit. Und wenn ich mit Dir versuche zu reden, wenn ich Dir von unseren Projekten hier in Quedlinburg erzähle, merke ich, dass wir inzwischen zwei verschiedene Sprachen sprechen, und das erschreckt mich und macht mich zugleich sehr traurig. Es beunruhigt mich, dass ich bei Dir das gleiche Beharrungsvermögen zu entdecken glaube wie bei den Mitarbeitern des Büros. Der Osten ist Dir fremd geblieben, so wie ich hier auch mit dem stillen Vorwurf leben muss, dass aus dem Westen nichts Gutes nach Quedlinburg gekommen ist. Bin ich selbst zu optimistisch?

Die Menschen hier arbeiten hart, ohne jedes Lächeln, und das wäre vielleicht das Schwerste für Dich: Hast Du doch bei jeder Arbeit immer Deine Freundlichkeit behalten....

Man würde Dich hier im Büro trotz, vielleicht sogar wegen Deiner Freundlichkeit anfeinden, offen oder verdeckt: Als ich Frau Radomsky neulich erzählte, dass Du früher meine Buchhaltung gemacht hast, haben sich bei ihr förmlich die Nackenhaare gesträubt! Ausführlich hat sie mir erklärt, das sie nie, nie, nie mit ihrem Mann zusammen im gleichen Betrieb arbeiten könnte.

Die Kolleginnen und Kollegen im Büro kennen sich zum Teil seit zwanzig Jahren, leider halten sie jede Veränderung für eine Störung. Erst nach einer Woche haben sie zugelassen, dass die neue Auszubildende auch das Plänefalten lernen kann... niemand will den Kollegen Einblick in die eigene Arbeit gewähren, jeder verteidigt engstirnig den eigenen Wirkungsbereich... es wird Zeit brauchen, dass wieder Vertrauen wächst.

Ich sehe ein, dass Du hier nicht leben willst und nicht arbeiten kannst, auch wenn es mir schwerfällt, auch wenn ich denke, die gemeinsame Anstrengung wäre wichtig, damit wir uns nicht fremd werden, damit wir uns über die gleichen Erlebnisse freuen und von den gleichen Niederlagen erholen könnten. Ich sehe, dass Du noch nicht kommen kannst und gebe die Hoffnung trotzdem nicht auf.

Du hast Dein Elternhaus im Westen beliehen, um mir Geld zu geben für eine Existenz im Osten, und so wird dieses Büro unsere Existenz sein, weil Deine Hypothek die Grundlage bildet, mit der ich das Büro erwerben kann, mit allen Aufträgen, mit den Rechnern, Druckern und Servern, mit allen Mitarbeitern...

Für Dein Vertrauen bin ich Dir sehr dankbar, dieser Brief soll ein Dankesbrief sein, auch wenn viel über Hoffnung drinsteht.

Ich freue mich auf das Wochenende...


Hier endet der 302. Eintrag: Dieser Blog mischt Fiktion mit Realität. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind zufällig und in der historischen Überlieferung nicht verbürgt. Ich bin nur der Navigator, mein Name sei NEMO:

Ich schreibe um unser Leben. Bitte bleib dran.

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Geschrieben von

archinaut

Ein Blick weitet den Horizont: Dieser Blog zieht um die deutschen Häuser

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