Tommie fährt jetzt seine Harley

Besuch: Gibt es ein richtiges Leben im falschen? Nichts ist so befriedigend wie das Prokrastinieren eines großen Plans….

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Bin kurz erschrocken, als das Display am Mobilfon seinen Namen zeigte…. hatten wir doch vor ein paar Tagen von ihm geredet, da hatte ich zufällig eine Kollegin getroffen, die ihn von früher kannte, bei einer Promo-Veranstaltung für Leuchten in einer Kirche aus den Sechzigern, die eine Galerie gerade für wechselnde Ausstellungen und Events nutzt : Tommie geht es gesundheitlich beschissen, wusste sie, Karin hat ihn auch noch verlassen, zu seinem besten Freund ist sie gezogen, über zwanzig Jahre waren sie zusammen! Ja, Tommie hatte mir von der Trennung erzählt, als wir uns das letzte Mal gesehen hatten, Bin ja selbst schuld, ich arbeite zu viel, Karin war immer allein… kurz nach Ostern muss es gewesen sein, im Spätsommer hatten wir noch einmal telefoniert, aber jetzt wurde es wieder kalt, der Totensonntag lag gerade hinter uns und auf dem Display leuchtete sein Name auf: Tommie.

Ich bin ganz in der Nähe von Eurem Büro, seine Stimme klang frisch und unternehmungslustig, als ich mich meldete, und er fragte dann, ob ich denn kurz Zeit hätte, und ich war froh, seine Stimme so kräftig zu hören…. Ja sicher, gern doch, komm einfach hoch, es gibt einen Aufzug!

Ich hatte immer wieder mal an ihn denken müssen, so mit diesem flauen Gefühl, das einen beschleicht, wenn man nicht genau unterscheiden will, ob man ein schlechtes Gewissen haben muss oder ob eigentlich alles o.k. ist…. Von einem leichten Herzinfarkt hatte er mir in unserem letzten Telefonat erzählt, und dass er jetzt endlich seine alte Harley flott machen und aus der Stadt verschwinden will, in den Süden, solange das Geld reicht! Hatte mich sogar gefragt, ob ich mitkommen möchte, aber ich lachte nur, wegen der Arbeit und so, war aber irgendwie auch ein wenig neidisch, und dieses flaue Gefühl meldete sich erst später, weil mir das Telefonat noch länger so im Kopf herumging.

Er ist ja kaum älter als ich…. und dieser Infarkt, den er im Sommer noch so leichthin am Telefon wegparliert hatte, erinnerte mich leise daran, dass unsere Peer-Group in den letzten Jahren bereits erste, überraschende Verluste notieren musste…. Architekten vergessen die Work-Life-Balance, wenn Bauherrn oder Baustellen rufen.

Als es an der Bürotür klingelt, lasse ich ihn herein…. Krank sieht er nicht aus, stelle ich fest, als ich ihn herzlich begrüße, vorsichtshalber frage ich noch, ob er lieber Tee möchte statt Kaffee...

Er hat eine Baustelle hier in der Nähe, erzählt er gleich, Umbau einer Kneipe, die soll ein griechisches Restaurant werden, die Küche muss vergrößert werden, die Eröffnung soll noch vor Weihnachten sein, der Bauherr hat schon die Speisekarten für das Silvestermenü drucken lassen…

Redet über seinen Sohn dann, der im letzten Jahr das Abitur geschafft hat, und ja, auch über Karin, die ihn und den Sohn verlassen hat. Tommie redet schnell und viel, wenn die Emotionen ihn treiben, und dass er jeder Antwort spätestens nach einer halben Entgegnung ins Wort fällt, ist eine Eigenart, die so mit den Jahren gewachsen ist, seitdem ich das Paar kenne, das nun kein Paar mehr ist.

Mit meinem besten Freund! Was ich erst kürzlich von seiner früheren Kollegin erfahren hatte,erzählt er mir jetzt selbst mit einem fast freimütigen Lächeln, wehrt aber nur mühsam die Bitterkeit ab… Sie kennt ihn fast so lange wie mich… seine Stimme klingt gepresst jetzt, als ob er doch noch die Faust in der Tasche ballt… wahrscheinlich ist der Typ sogar der biologische Vater unseres Sohnes!

Oh nein, das kam zu überraschend… ich muss unbeabsichtigt lachen und entschuldige mich sofort: Tommies Erzählungen handeln immer vom GAU, vom größten anzunehmenden Unglück, egal ob er als junger Traveller in Peking das Tian‘anmen-Massaker um zwei Tage verpasst hat (worüber er froh ist) oder ob er es gegen alle Widerstände schafft, absurde Termin- oder Kostenvorstellungen seiner Auftraggeber zu erfüllen (worauf er stolz ist)… wie immer springen seine Gedanken von Drama zu Drama, eine Pause zur Einrede kaum zu finden: Ich kann gar nicht glauben, was Du da erzählst… versuche ich meinen Ausrutscher zu erklären. Aber er hat sich schon weiter in den Gedanken versenkt und setz nach: Sollten wir uns irgendwann treffen, muss er sich in Acht nehmen… Ich werde ihm die Nase brechen! Auch wenn diese Behauptung nicht recht in das Bild passt, das ich von Tommie habe, so hüte ich mich davor, noch einmal zu lachen.

Jetzt erzähle ich ihm, dass ich seine ehemalige Kollegin getroffen habe: Sie hatte auch von Deinem Herzproblem gehört…Wir haben überlegt, wie es Dir wohl gerade geht, sage ich, das Letzte, was ich von Dir erzählen konnte, war Deine Idee für die Reise mit der Harley, wir haben damals ja noch telefoniert…. Über mein flaues Gefühl sage ich ihm jetzt aber nichts, frage ihn stattdessen: Wie war es denn? Aber er lacht nur und murmelt so etwas, nein, er ist nicht gefahren, die Maschine ist noch nicht fahrtüchtig, die steht in einer gemieteten Garage und er will sie zum nächsten Frühjahr fertig machen.

Nichts ist so befriedigend wie das Prokrastinieren eines großen Plans, muss ich denken.

Morgen habe ich übrigens einen Termin bei der Baudirektion, sage ich, um das Gespräch in eine andere Richtung zu lenken…. Er hat viele Kleinaufträge von der Baudirektion, das weiß ich, früher war er dort angestellt, ebenso wie ich selbst mit einem befristeten Vertrag. Als sein Vertrag vor zwei Jahren nicht verlängert werden konnte, ist er in dieSelbständigkeit gegangen und hat ihre Aufträge im Honorarvertrag weiter bearbeitet. Ich ging drei Monate später, als mein eigener Vertrag bei der Baudirektion auslief, und ich weiß noch, wie enttäuscht er war, dass er nur die undankbarsten Aufgaben bekam…. Die interessanten Aufgaben gingen auch weiterhin an die eingeführten Ingenieurbüros, für ihn blieben die Jobs, die zu klein, sprich zu unwirtschaftlich waren.

Nein, für die Baudirektion will ich nicht mehr arbeiten, winkt er ab, zwei Jahre lang macht man jeden Mist in der Hoffnung, dass mal ein richtiger Auftrag kommt… viel Spaß wünsche ich Dir, hoffentlich hast Du was Einträgliches erwischt?

Zufälligerweise soll das Gespräch bei unserem ehemals gemeinsamen Teamleiter sein…. Die Dachdichtung einer Turnhalle muss ausgetauscht werden, stelle ich kurz dar, ein Flachdach aus den Siebzigern, keine große Sache, ein Entwurf ist nicht erforderlich, als Architekt hat man die Kostenschätzung zu machen, Angebote einzuholen und die Ausführung zu überwachen, wenige Worte reichen zur Erklärung… und er verabschiedet sich bald darauf: Wir bleiben in Kontakt? Na klar!

Zum Gespräch bei der Baudirektion am nächsten Tag war ich ganz pünktlich, musste dann im Besprechungsraum noch etwas warten auf den Teamleiter, damit er mir die Rahmenbedingungen noch erläutert, auch das Budget für den Auftrag wollte ich gerne wissen.

Als Erstes fragte ich natürlich, wie es ihm und den Kollegen von früher geht… er wirkte etwas nachdenklich und erzählte dann: Ach, weißt Du, gestern war ich bei der Beerdigung von Tommie, Du kennst ihn bestimmt noch? Ihr habt doch beide zur gleichen Zeit hier gearbeitet… Im Sommer hatte er einen Herzinfarkt, musste ins Krankenhaus, sie haben ihn operiert, aber es wurde nicht besser… man hat ihn dann in ein künstliches Koma versetzt, schließlich ist er trotzdem gestorben…. dabei war er ja gar nicht so alt, da wird einem schon komisch zumute…. Seine Mutter war bei der Beerdigung, und sein Sohn, aber sonst kaum ein Mensch… Er war doch so ein Zuverlässiger, hat jeden Auftrag angenommen, jede Nacht kamen spät noch E-Mails von ihm…. ich mochte ihn gern… und er wollte mir irgendwann mal seine alte Harley zeigen, die steht in einer Garage, er wollte sie fertig machen, wenn er mal etwas Zeit hat…“

Nachtrag zum 214. Eintrag vom 03.11.2011: Hinter uns liegen die Chronolysen (in vier Akten)... die Timeline im Blog archinaut: ist inzwischen justiert. Dieser Blog berichtet aus Deiner Welt. Ich bin nur der Navigator, mein Name sei NEMO:

Ich werde Euch nicht schonen. Öffne Deine Augen.

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archinaut

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