Fehlt das Geld, leiden die Häuser. Am 1. Oktober 1920 wird die Stadt Spandau eingemeindet als Stadtbezirk im Westen der prosperierenden Metropole Groß-Berlin, in den dreißiger Jahren wächst dort meine Mutter auf, in einer Etagenwohnung. Wenn sie den Vater ihrer Mutter, ihren Großvater besucht, muss sie mit der S-Bahn in einen südlichen Vorort der Metropole, nach Berlin-Nikolassee in die Nähe der Rehwiese, und noch heute kann sie den Salon und die Bibliothek im Haus ihres Großvaters beschreiben, den Flügel, die Sitzgruppe mit dem Schachtisch, den dunklen, mächtigen Schreibtisch mit der lederbezogenen Schreibfläche, die Messingknöpfe, den hellen Sekretär für die Dame das Hauses, und natürlich die vielen Stücke des „Biedermeierzimmers“, das die Großeltern aus ihrer hessischen Geburtsstadt nach Berlin holten, als der Großvater zu Wohlstand kam und die Familie eine gutbürgerliche Residenz im kiefernreichen Weichbild der Metropole beziehen konnte.
Weiße Liegestühle warten auf der Terrasse, der Rasen liegt gärtnergepflegt. Gelegentlich holt der Chauffeur das junge Mädchen und seine Geschwister ab, ihre Mutter hat ihnen erzählt, der Großvater sei Baurat bei der Berliner Aktiengesellschaft AEG ...Er hat die Zugspitzbahn gebaut!
Ingenieure haben damals die Welt verändert, und die Welt zeigte sich erkenntlich. Aber die Großmutter ist früh gestorben, und das Verhältnis zur zweiten Frau des Großvaters bleibt gespannt. Haus und Garten verändern sich in den Jahren der Depression, der Kriegsvorbereitungen, ein Teil der Flächen wird verkauft.
Halbwüchsig verlässt meine Mutter und ihre Familie die Hauptstadt noch vor Kriegsbeginn, der Bruder fällt später in den letzen Gefechten. Alle Teile der Stadt werden von den siegreichen Mächten besetzt, auch Berlin-Nikolassee und die Straßen und Gärten unter den alten Bäumen, die Hausherrin tötet sich selbst, als sie zum Verlassen des Anwesens gezwungen wird.
Das „Biedermeierzimmer“ wird nach dem Tod meines Urgroßvaters zurück in die hessische Kleinstadt expediert, aus der es stammt, und meine Großmutter empfängt uns Enkelkinder stets in diesem Salon aus dem Elternhaus ihrer Mutter wie im Schaukasten einer herbstgoldenen Zeit, an den Wänden historische Stiche einer verdämmerten Welt, aus einer verlorenen Stadt, unerreichbar: „Unter den Linden“, „Gendarmenmarkt“, „Hedwigskirche“, „Am Brandenburger Tor“, da steht der Schachtisch, der Damensekretär mit kräftiger Maserung, der runde Tisch, die Stühle, Sofa und Kommode, helle Kirsche mit schwarzpolierten Zierstücken.
Deine Mutter wollte ja unbedingt Urgroßvaters Haus verkaufen! das höre ich gelegentlich von meinen Cousinen. In den frühen Westberliner Inselzeiten leben sie mit anderen Familien in der alten Villa hinter verwilderten Hecken unter schirmenden Kiefern, das Haus provisorisch mehrfach geteilt mit einfachsten Bädern, so wie es auch in anderen großbürgerlichen Häusern der kriegszerstörten Stadt geschehen ist. Das Haus unseres Urgroßvaters kenne ich nur von ihren Kinderzeichnungen, klinkerrot, das spitze schwarze Dach gegen hohe Kiefern, die mit dem Wind singen.
Unsere Mütter haben das Haus in Nikolassee zu gleichen Teilen geerbt, als Schwestern, wiederhole ich dann immer, meine Mutter hat mich gefragt, ob ich später mal nach Berlin ziehen will! West-Berlin liegt für mich damals abseits am Rande der bewohnbaren Welt, weit außerhalb meines Erwartungshorizonts. Nein, ich habe nicht die Absicht, auf einer Insel ohne Meer zu leben.
Ein Wertgutachten listet die lange Reihe der erforderlichen Sanierungsmaßnahmen auf, von der Kellerabdichtung bis zur Dachdeckung, die Kosten dafür halbieren den Verkaufswert nahezu. Meine Mutter will sich keinesfalls mit der bedürftigen Hinterlassenschaft belasten. In ihrem Lebensbuch ist Berlin ein Kapitel, das sie nie wieder öffnen wird. Der Nachbar erwirbt Haus und Grundstück schließlich zur Erweiterung seiner Privatklinik, er hat sich einen Namen als Schönheitschirurg gemacht.
Zum Studium zog ich doch nach Berlin, absichtslos gelenkt durch Regularien der Studienplatzvergabe. Und die Männer meiner vielköpfigen Cousinenschar sprechen mich beim Familientreffen an: ....wäre heute ein Vermögen wert, da drin könnten wir alle zusammen wohnen! Ob wir wirklich in Urgroßvaters Haus leben wollten als glücklicher Blutsbanden-Clan? Die Frauen gehen jagen, die Männer schwatzen am Feuer und setzen der Jugend Flausen in den Kopf..... realistisch eingeschätzt wäre nicht ein Paar, schon gar nicht ein Einzelner aus dem Atoll unserer Familienfragmente in der Lage, das große Haus zu führen....
Unsere Kinder wachsen in derselben Stadt auf, wir sehen uns zu den Geburtstagen. Meine älteste Cousine schenkt mir zwei blaue Hefte: Die sind vom Urgroßvater.... Aufzeichnungen aus Vorlesungen, Statik, Baukonstruktion, feine Federzeichnungen von Brückenpfeilern, über hundert Jahre alt.
Vom Abschied hat meine Mutter nur einmal erzählt: Eine Tür im Souterrain haben wir nie geöffnet...... als die Russen das Haus hatten, haben sie da unten die Nachbarn verhört......sie sind dann raus, war ja amerikanischer Sektor...... später blieben immer mal Leute auf der Straße stehen, flüsterten...... niemand ist mehr in den Kellerraum gegangen.... als ob ein Fluch drüber liegt!
Die Urne mit der Asche meines Vaters ist beigesetzt im Familiengrab zu Marburg an der Lahn, meine Mutter bewohnt als Witwe das geerbte „Biedermeierzimmer“ im niedersächsischen Hannover, und sie fragt mich bei jedem Telefongespräch: Wann holst Du die Möbel ab?
So steht’s geschrieben im Vermächtnis meiner Großmutter: Auf mich kommt das Erbzimmer, der runde Tisch, sechs Stühle, ein Sofa, ein Sessel, eine Kommode mit Spiegel. Seit 1848...... Es soll nicht verkauft werden.
Ich habe keine Villa einzurichten, und immer wieder sammeln sich düstere Schatten in unseren Wohnungen. Wie so üblich habe ich vier Urgroßmütter und vier Urgroßväter, ihre Häuser aber sind mir heute fremd.
Hier endet der 84. Eintrag: Dieser Blog mischt Fiktion mit Realität. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind zufällig und in der historischen Überlieferung nicht verbürgt. Ich bin nur der Navigator, mein Name sei NEMO:
Ich schreibe um unser Leben. Bitte bleib dran.
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Diesen Text widme ich der kämpferischen Jayne
für ihren Blog Prosodie der Kellergänge
Dieser Blog mischt Fiktion mit Realität. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind zufällig und in der historischen Überlieferung nicht verbürgt. Ich bin nur der Navigator, mein Name sei NEMO:
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Kommentare 40
Ha!
oh mist, erwischt....
ich hab's ja gesagt!
Wiederholungstäter werden mit Kniebeugen nicht unter 85 Stück bestraft.
Kniehhhhbeugen?
Ich glaub, mein Meniskus pfeift....
tu mir das nicht an!
Ich singe auch nie wieder "summertime"
Archie, welches "summertime"? Von dem Mungo oder das ab FFWD 2:15
...... sehr schön lockig,
aber heute hatte ich den ganzen Tag noch
Janis Joplin im Ohr (mit dem Gershwin-Kracher)
zu Janis mach ich mal ohne Kommentar ;-))
@archinaut.. erlesenen Ohrwurm...ich hatte den gestern ;-).
...ja, deswegen hatte ich ihn im Ohr,
vielen herzlichen Dank noch einmal
für die freundliche Infektion :-))
So, zur Tat. Ich war nämlich eben absent wg. Shoppingtour in der Freitag-Kollektion. Ich bin bald Träger des goldenen T-Shirts am Bande mit ´nem Merdeisterspruch drauf, den ich aber dann doch eingetauscht habe gegen ein klassisches: derFreitag als Schriftzug. Über das Kapuzenshirt will ich hier nicht reden, ich habe ja kein Erbzimmer, wo ich die Sachen alle verstauen kann. Nur noch das: die Pfeile zeigen nach links, das Ding ist schwarz.
Archinaut, der Anfang Deines 84. Beitrag ist hier voll passend: "Fehlt das Geld ...", mußt Du den Rest einfach raushauen. Genau. Deine Geschichte hat Geschichte, Persönlichkeit(en), Gebäude und ist wunderbar erzählt, bis zum Ende.
Ich nehme hier alle Bedenken zurück, die ich nach der Lektüre des 83. Beitrags eventuell hinter der Stirn hatte. Auch mein Vorschlag, den 85sten Beitrag vielleicht vorzuziehen, verweise ich ins Reich meiner Phantasmen.
Es ist eine wunderschöne Erzählung, Urgroßvater, was für ein Wort, gewesene Utopie. "Klinkerrot das spitze schwarze Dach gegen hohe Kiefern, die mit dem Wind singen." - Ja.
Huch, was ist passiert, lieber Rainer,
hast Du Kreide gefressen wie der Wolf
(der die Großmutter..... Du weißt schon :-))
Das Stück ist doch totaler Retro-Kitsch,
sei doch mal ehrlich!
Sonst kriege ich rote Ohren.....
.... und vielen Dank für den Tip,
da fehlte wohl ein Komma :-))
Ich wollt´ Dich halt ein bisserl aufbauen nach dem Desaster der 83. Außerdem war ich noch im Rausch, vom Freitagskauf. Also, neue diesmal ehrliche Wertung: eine zehn auf der bekanntlich nach oben offenen Richterskala.
artig dankt
das archie
:-)))
lieber archinaut, vielen dank für diese schöne und eindrucksvolle hausgeschichte, ein haus, durch das die geschichte selbst gegangen ist, beinahe unvermeidlich in berlin, und ich konnte es vor mir sehen, zumal ich in nikolassee auch schon per rad unterwegs gewesen, und auch in spandau, dieser so gar nicht berlinerischen vorstadt ... Es steht immer auch die frage, ob wir dieses erbe annehmen und wie wir damit umgehen können.
Summertime - bitte aus der Fassung mit Louis Armstrong und Ella Fitzgerald....
Gute Frage. Von der Geschichte meiner Familie ist nichts übrig. Alles ausgeräumt, verramscht, verkauft.
Lieber Archinaut, merci!
und das Wort "Weichbild"!!!! :-))
und bei Marburg werd ich hellhörig :-))
"Begegnet Frau Biedermeier Herrn Krassmüller..."
is kein Retrokitsch nee. Und überhaupt, selbst wenn: Frag goedzak: Kitsch ist schön!
Gut das der Nachbar Schoenheits-Chirurg ist und das Haus vor dem sicheren Tod bewahrt hat. Häuser haben ein langes Leben wenn mensch sie leben lässt.
Zur fundierten Kritik fehlt mir weiterhin das Handwerkszeug, doch Den Text und die Kommentare habe ich gerne gelesen.
Männer: Weitermachen!
ganz recht sachichma. das aelteste haus deutschlands steht in hessen, ist über 1000 jahre alt und aus lehm gebaut :-)
hibou, jetzt schreib nur noch, dass vor dem Haus ein Roland mit Kochmütze steht; alles glaub ich dir auch nicht
hach...dabei will ich groupies.....
Es sollte doch jemand so höflich sein und Aliens Wunsch erfüllen, oder?
Lieber archinaut,
erst einmal meine herzliche Bloggulation zu Deinem 85ten Blog. Zur einer virtuellen Blogbeitragsgeburtstagstorte mit einer 85 und Kerzen drauf reicht im Internet-Cafe leider die Zeit nicht mehr. :)
Zum Text, der von Dir als poetischem Architekten wunderbar geschrieben ist, kann ich mich der positiven Kritik nur anschließen.
Beim Meister vom Fach und des Wortes fängt das Haus an, eine sehr anrührende Geschichte über wechselvolle Zeiten zu erzählen. Die dunklen Schatten der Vergangenheit scheinen beim Lesen die Hand nach einem auszustrecken.
Herzliche Grüße
ruhrrot
Danke,
unfundierter MM :-))
... Schön, dass Du reingeschaut hast,
und wegen der dunklen Schatten: da oben sind drei wundervolle Lieder zum Vertreiben der Dunkelheit...
außerdem helfen natürlich Deine Kerzen,
herzlichen Dank dafür!
Eine gute Nacht wünscht Dir
archie
Liebe jayne,
wie schön von Dir zu lesen, dass du Spandau und Nikolassee kennst, ist ja auch ein lustiger Zufall, ich glaube nämlich, dass viele Berliner noch nie in Spandau oder in Nikolassee waren.....
Herzliche Grüße nach Dresden!
"Alles ausgeräumt, verramscht, verkauft."
Das klingt etwas bitter, liebe Alien,
aber vielleicht hast Du Erinnerungen,
die Dir wertvoll sind....?
... ja, Häuser haben ein langes Leben,
aber sie sollten dienen, nicht beherrschen.
Lieber hibou,
Biedermeier und Krassmüller in Marburg...?
Vielen Dank für Deine Lanze wg. Kitsch :-))
kitsch as kitsch can,
wer war das doch gleich.....
Lieber archinaut,
hab ich wieder gern gelesen, Nummer 83 las ich noch lieber, aber das hat sicher mit meiner Biografie zu tun. In dem Alter, als Du in Florida Wände anmaltest, trampte ich durch den Nahen und Mittleren Osten, jobbte neun Monate in Kabul.
Toll, so was mal gemacht zu haben, das vergisst man nie. Und im etwas fortgeschrittenerem Alter erinnert man geringste Details und was man damals empfand und fühlte.
Lieber weinsztein,
das Gepäck war so leicht damals.....
(aber das könnte auch Einbildung sein)
Freue mich, wenn Du's gern gelesen hast.
Neun Monate Kabul
das macht mich aber auch sehr neugierig :-))
...ist übrigens erst der 84. Beitrag,
hier wird wahrscheinlich auch die Freitag-Frage mitgezählt (eine habe ich gestellt)
luggi - danke, sehr aufmerksam.
:-)
Die Erinnerungen konnten sie nicht mitverscherbeln, das ist freilich wahr.
Aber schon, dass der Inhalt eines Bücherschrankes sich quasi in Luft auflöste, nahm ich übel. Und Haus und Garten, unter den neuen Eigentümer fast verkommen, der Kirschbaum ermordet....
Und nein, das ist nicht ganz so ernst gemeint, wie es sich liest. Aber ein Protest gegen die Geschichtslosigkeit mancher nichtdenkenden Menschen.
Apropos: nach dem Lesen Deines Blogs traeumte mir prompt - zwar nicht von der Zugspitz- aber der Jungfraujochbahn :-). Sie war, wie alle Zahnradbahnen etwas schraeg gebaut, wenn sie am Gegenhang Anlauf nahm, sass man vollkommen verquer. Auf 3000m Höhe blieb sie für zehn Minuten stehen, damit sich die Leute an die dünne Luft anpassen konnten. Ah, weisst Du, als ich klein war, wollte ich Zahnarzt für Zahnradbahnen werden! Bin - untraumhaft - mit so vielen gefahren, wie ich nur konnte, der Niessen-Bahn, der Rigi-Kulm-Bahn, der Brienzer-Rothorn-Bahn und sogar der Speicher-Trogen-Bahn und der von Territet hoch zur Moralischen Aufrüstung. Es war immer, als ob man aus dem dumpfen Tal auftauchte, wenn man die 24 Aeltesten so nach und nach wieder zu Gesicht bekam (Jungfrau, Mönch, Eiger, Finsteraarhorn, Tödi, Bluemlisalp, Aletschorn, Dent Blanche, Weisshorn, Pigne d'Arolla, Mont Blanc de Cheillon, Matterhorn, Monte Rosa, MONT BLANC, Aguilles du Midi, Dent de Morcles, Dents du Midi, Les Diablerets, Morteratsch, Corvatsch, Piz Bernina, Piz Palü, Ortler, Dolomiten...) Man sah sie übrigens fast besser, wie vom Balkon, vom Jura aus, man sieht sie ja bei schönem Wetter sogar vom Schwarzwald aus......
Hoffe, es ist net off topic?
neien lieber hibou,
Gipfelstürmer passen voll in diesen Blog, na klar!
Bitte weiter träumen!
Liebe Alien59,
mit meiner Familie bin ich sehr oft umgezogen, schon als Kind...... wenn ich die Häuser später wiedergesehen habe, passte die Erinnerung nicht mehr in die Gegenwart...... der Kirschbaum wird nie mehr so blühen wie in Deinen Kinderträumen.....
"Weichbild der Staedte", was es genau heisst, ist mir nie klargeworden. Irgendwer aus Schmargendorf hat mal einen Roman mit diesem Titel geschrieben, der Verleger hat daraus zwei Buecher gemacht, die hiessen ganz anders.