Vom Stuttgartisieren

Baukultur Weil ein Architekt glaubte, dass Häuser die Empfindungen und Entscheidungen der Menschen beeinflussen können, erfand er den gläsernen Plenarsaal für Bonn

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Ein scharfer Blick aus tiefblauen Augen: Wir wollen aber nicht stuttgartisieren.... ermahnt mich die schöne Assistentin am Lehrstuhl der Westberliner Architekturfakultät im Herbst 198? ..hier in Berlin zeichnen wir anders!

Mit rot lackiertem Fingernagel tippt sie an schwarze Tuschestriche, die sich treffen auf matt opakem Transparentpapier (oh ja, ich liebe dieses Papier!): So zeichnen die Architekten der Stuttgarter Schule, die Linien treffen sich nicht in der Ecke, sondern werden über den Schnittpunkt weiter ausgezogen!

Die Linien der Berliner Architekturstudenten haben sich preußisch-exakt in der Ecke zu treffen. Da die Spitze des Rapidographen rund ist, zeichnet man die äußere Seite des Winkels mit kleinster Strichstärke vor, dann zieht man mit dem Nullfünfer (braun) oder Nullsiebener (blau) nach: Der strenge Oswald Mathias Ungers hat es uns so beigebracht!

Im Süden der Republik wirkt Günter Behnisch, der Architekt der heiteren Spiele von München, Großmeister für alle jungen Architekten, die sich nicht mit der kargen Berliner Linie befreunden wollen. Seine Skizzen gleichen zerzausten Vogelnestern, rechtwinklig zunächst, später auch in alle Richtungen schießen Träger und Stützen, dazwischen transparent gespannt die Kristallmembrane.... der Spiegel beschreibt Behnisch im Nachruf als den Architekt des gläsernen Deutschlands: Er wollte sich und seinen Kunden Spielräume eröffnen, Zwänge abbauen, Normen infrage stellen, Hierarchien auflösen. Als Architekt glaubt Behnisch daran, dass Häuser die Empfindungen und Entscheidungen der Menschen beeinflussen können, so erfand er den gläsernen Plenarsaal für Bonn.....der Berliner Reichstag war für ihn lange ein "Monster", ein Ausbund "wilhelminischer Machtarchitektur". Er wollte es anders machen, heißt es im Nachruf.


Architekten und Ingenieure entwickeln die Zukunftsvisionen inzwischen in ihren Rechnern, nach der Jahrtausendwende findet ein Berliner Architekturstudent das Verb stuttgartisieren eher in einer anderen Bedeutung: Stoppt Stuttgartisierung! fordert ein Aufruf im Internet, der gegen Schwaben in Berlin mobilisieren möchte.... gegen schwäbische Kinderwagen, schwäbische Bäckereien, schwäbische Nachbarn und Hausbesitzer.


Städte und ihre Bewohner erfahren immer wieder neue Zuschreibungen wie wachsende Bäume, die Kronen und Wurzelwerk mit den Jahresringen allmählich vergrößern. In der Nacht zum 1. Oktober 2010 werden vor den Augen der empörten Öffentlichkeit die alten Bäume des Schlossparks gefällt, unter Polizeischutz und politisch dissonanter Begleitung in den Medien. Die Bilder des Morgens zeigen ein Schlachtfeld mit Siegern und Besiegten.

S21 ist das Kürzel für ein Verkehrs- und Immobilienprojekt, mit dem die Stuttgarter eine Bühne für das neue Jahrhundert bauen wollen. Aber man fragt besorgt, wofür der Name der bodenständigen Schwabenkapitale in Zukunft stehen wird...



Hier endet der 118. Eintrag: Dieser Blog mischt Fiktion mit Realität. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind zufällig und in der historischen Überlieferung nicht verbürgt. Ich bin nur der Navigator, mein Name sei NEMO:

Ich schreibe um unser Leben. Bitte bleib dran.

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Geschrieben von

archinaut

Ein Blick weitet den Horizont: Dieser Blog zieht um die deutschen Häuser

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