Zwölf

Ostharz: Vorstellung des neuen Biotops - ein Roman in Fragmenten

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Das Büro hat ihm die Liste der angestellten Mitarbeiter gefaxt. Seine Bitte nach einer E-mail irritiert die Sekretärin: E-mails schreiben wir nicht..... für die Computer ist Herr Karski zuständig, der ist Ingenieur!

Die Sekretärin heißt Kristin Radomsky, kann er auf der Liste lesen. Am Telefon meldet sie sich nur mit dem Firmenname: Bauprojekt Quedlinburg, grußlos wartet sie auf eine Angabe zur weiteren Vermittlung. Jedes Mal, wenn er anruft, fragt er nach: Frau Radomsky? Sie antwortet immer: Ja!

Zwei Tage sind vereinbart, die Mitarbeiter des Büros kennen zu lernen. Geschäftsführer Kobold führt ihn durch die einzelnen Zimmer: Wir haben die ganze Siedlunggeplant, auch dieses Haus..... Bauprojekt hatte damals sechzehn Mitarbeiter, wir haben diese Büros genau passend geplant..... hier ist die Abteilung Hochbau, da drüben sitzt der Tiefbau... Alle Türen sind sorgfältig beschriftet.

Kobold redet schnell, es gab Veränderungen: Frau Mantey, die Architektin, kann ich Ihnen leider nicht mehr vorstellen, sie hat gekündigt.... sie will sich selbständig machen. Kobold zeigt einen kleinen Raum mit einem leeren Schreibtisch.

Zwei Arbeitsplätze sind in vielen Zimmern vorgesehen. Auch wenn zwei Namen an der Tür stehen, ist oft nur ein Schreibtisch besetzt. Vielfarbige Aktenordner und farblose Topfpflanzen verteilen sich raumgreifend in allen Büros.

Hier sitzt Herr Obermeyer, der Leiter der Hochbauplanung, sagt Kobold und öffnet die nächste Tür, Wolfgang, ich komme mit dem neuen Geschäftsführer, er hat früher in Leipzig gearbeitet... Oh, dann bauen wir jetzt für die Olympischen Spiele... sagt Obermeyer und lächelt fein.

Durch eine offene Verbindungstür in Sicht- und Hörweite sitzt die Bauzeichnerin Frau Förster im Raum nebenan, der zweite Schreibtisch ist leer: Erika, hier ist der neue Geschäftsführer! Sie grüßt scheu.

Im nächsten Raum stellt Kobold den zukünftigen Chef bei der Architektin Frau Keyser und beim Ingenieur Herrn Karski vor. Während Karski nur kurz vom Bildschirm aufschaut, wagt Frau Keyser sich in ein Gespräch mit dem Neuen: Sie kennt Leipzig gut, war auch oft in Berlin, das möchte sie gerne kommunizieren und ist dabei sehr lebhaft.

Über den Flur dringt ein Hilferuf: Dieter... Absturz! Karski stöhnt auf und verlässt den Raum...... Herr Karski ist für alle Computer und für das Netzwerk zuständig, erklärt Kobold, bei einem Problem wird er gerufen! Frau Keyser wünscht dem Neuen noch viel Erfolg und äußert die Hoffnung auf eine gute, vertrauensvolle Zusammenarbeit.

Frau Keyser ist immer etwas aufgeregt, sagt Kobold auf dem Flur leise, besonders seitdem die andere Architektin gegangen ist, sie waren befreundet, glaube ich... Er weist auf eine geschlossene Tür: Der Raum da drüben ist leer, früher hatten wir dort eine Zeichnerin, im letzten Monat saß dort noch der Leiter Tiefbau.... er steht auf Ihrer Liste, ich musste ihn aberentlassen... Der Neue fragt nach. Die Auftragslage im Tiefbau ist nicht so gut, außerdem hat er zu viele Fehler gemacht.... sagt der alte Geschäftsführer nervös. Das Thema ist ihm offensichtlich unangenehm. Er öffnet die nächste Tür.

Hier ist die Abteilung Tiefbau, Herr Gräbermann ist Ingenieur, Cornelia Müller heißt seine Zeichnerin, eine junge Mutti... sie hat bei uns gelernt, da war sie noch die Conny.... stellt Kobold die beiden vor. Herr Gräbermann ist hinter mächtigen Papierstapeln nahezu verschwunden, Frau Müller kommt aus dem Nebenraum. Der Neue weckt freundliches Interesse.

Vom Tiefbau weiß ich noch nicht viel, sagt er, da können Sie mir bestimmt was beibringen. Herr Gräbermann lacht heiser und hebt die Hand. Seine Finger sind dunkelgelb, er scheint ein starker Raucher zu sein. Frau Müller zieht den Kopf leicht zwischen die Schultern, sie lacht nicht.

Hinter der nächsten Tür arbeitet Frau Bollmann, sie ist für die Ausschreibungen zuständig. Ihr Gruß ist nahezu unhörbar, ihre Mine unergründlich. Drei Namen stehen an ihrer Tür, zwei Schreibtische stehen leer.

Hier sitzt Herr Grau, Kobold öffnet die letzte Tür am Flur, er macht die Bauleitung! Grau entknittert sein zerfurchtes Gesicht zu einem gequälten Lächeln und nuschelt einen kurzen Gruß, bevor er den Kampf mit der Tastatur des Rechners wieder aufnimmt. Der Boden des Büros ist bedeckt mit Papierstapeln.

Herr Grau hat sehr viel zu tun? fragt der Neue leise, als die Tür wieder zugefallen ist. Kobold überlegt einen Moment, bis er antwortet.

Ja, leider.... wir hatten noch einen anderen Bauleiter, er hat vor drei Monaten gekündigt, er steht nicht auf Ihrer Liste..... aber irgend jemand wird es Ihnen ja sowieso erzählen: Er hat ein eigenes Büro aufgemacht.... Frau Mantey, die Architektin, die hier gekündigt hat, fängt vielleicht bei ihm an...

Im Vorraum des Geschäftsführerbüros sitzt Frau Radomsky. Kobold stellt sie nicht vor, er geht schnell an ihr vorbei in sein Zimmer. Guten Tag, Frau Radomsky, sagt der Neue, wir kennen uns ja schon vom Telefon!

Langsam dreht sie sich um und fixiert ihn. Ein Lächeln breitet sich über ihr Gesicht, unaufhaltsam. Sie steht auf und streckt ihm die Hand entgegen.

Kommen Sie, ruft Kobold aus seinem Büro, bring uns zwei Kaffee, Kristin!

Milch und Zucker? fragt Frau Radomsky noch hinter ihm her.

Als der Kaffee vor ihnen steht, redet der bisherige Geschäftsführer über die Zukunft. Sie brauchen nichts zu ändern, hier kennt jeder seine Aufgabe! sagt Herr Kobold energisch, Bauprojekt Quedlinburg hat dreißig Jahre Erfahrung, nach der Wende waren wir lange das einzige Planungsbüro in Quedlinburg!

Der Neue nimmt sich die Liste vor. Er überlegt kurz, ob er sich in Zeile 13 eintragen soll, aber seit der Aufstellung hat sich die Anzahl der Mitarbeiter reduziert..... und Herr Kobold wird bald von Bord gehen. Dann sind wir zehn, denkt er. Auf der Liste ist Eintrittsdatum und Geburtstag aller Betriebsangehörigen vermerkt, die meisten sind Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre dazu gekommen. Die Tiefbauzeichnerin ist etwas jünger, auch Dieter Karski.

Als ihm auffällt, dass die Anderen auf der Liste älter sind als er selbst, wird er sehr nachdenklich.



Hier endet der 175. Eintrag: Dieser Blog mischt Fiktion und Realität. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind zufällig und in der historischen Überlieferung nicht verbürgt. Ich bin nur der Navigator, mein Name sei NEMO:

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Geschrieben von

archinaut

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