Aber bitte nicht klingeln!

Auf dem Bürgersteig Wer bei Rovaniemi an Rentiere denkt, denkt falsch. Der Drahtesel hat die Vierbeiner schon lange in die Wälder vertrieben.

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Aber bitte nicht klingeln!

Foto: Phil Walter/ AFP/ Getty Images

Wenn man an den hohen Norden Finnlands denkt, denkt man vielleicht an Rentiere oder an Sami in blau-roten Trachten. Wenn man weiter denkt, dann vielleicht an Hotels aus Eis oder an Filme wie „Populärmusik aus Vittula“ (Der in Pajala spielt, einem schwedischen Grenzort, 2 Stunden mit dem Auto von Rovaniemi entfernt). Aber man denkt eigentlich nicht an Fahrräder. Dieses Konstrukt aus zwei Speichenräder plus Metallrahmen kommt eigentlich einem nicht in den Sinn. Wer schon mal im tiefsten Winter voller Elan versucht hat zur Arbeit oder zur Schule zu radeln, kann nur andächtig nicken. Viele haben es wohl mal versucht. Sind morgens noch im Dunkeln raus, schlitterten über vereiste Nebenstraßen los. Schafften es vielleicht sogar ohne zu stürzen zu einer gesalzenen Durchgangsstraße. Der Weg ist frei, nur dummerweise auch für den eisigen Wind, der einem sofort ins Gesicht peitscht. Das peitscht einem dann auch ganz schnell den Elan aus den Knochen und das Hirn sagt einen, hey Alter, den Bus zu nehmen ist doch eigentlich genauso gut wie Fahrrad fahren. Ich kann mit stolz verkünden, dass ich während der Schulzeit einen Winter lang die 10 Kilometer zur Schule ohne Unterbrechung mit den Fahrrad gemeistert habe. Aber ich möchte etlichen Großvätern, die barfüßig 20 Kilometer zur Schule bei Schneesturm und Überschwemmung gleichzeitig auf einem Bein hüpfend gemeistert haben, nicht den Schneid ablaufen. Ich möchte nur erwähnen, dass es arschkalt war und mir das eine oder andere Haar auf der Brust dabei gewachsen ist.

Ein reichlicher Erfahrungsschatz ist vohanden, der uns lehrt, im Winter, nein, nein, da fährt man nicht Fahrrad. Man pinkelt ja auch nicht gegen einen elektrischen Kuhzaun oder föhnt sich die Haare in der Badewanne. Was für uns richtig erscheint, muss ja auch für alle andere richtig sein. Ein beliebter Fehlschluss, der uns nicht auf die Idee kommen lässt, dass Rovaniemi, am Polarkreis gelegen und nur ein Steinwurf von cineastische Hotspots wie Pajala entfernt, ein Hotspot der Fahrradkultur in sich birgt. Nicht Rentiere und nicht Schneemobile gibt es in Rovaniemi wie Sand am Meer, sondern Fahrräder. Der Bürger und die Bürgerin der Stadt radelt und das mit Wonne. Man bekommt für gut 60 Euro ein überholtes, gebrauchtes Fahrrad mit dem Versprechen, wenn man es nicht mehr braucht, wird es für den halben Preis zurückgekauft. Es ist alt, dafür stabil wie sonst was und der Zufall wollte es, dass der Couchsurferkumpel sogar den Vorbesitzer kannte. Ein Franzose, der Anfang August Rovaniemi den Rücken kehrte.

Aber es gibt einige Besonderheiten zu beobachten, die zuerst irritieren und jeden braven Verkehrspolizist in Deutschland in den Wahnsinn treiben dürfte. Alle Fahrräder in Rovaniemi haben kein Licht. Anstatt ein mit Dynamo betriebenes Lämpchen oder ein Aufstecklicht ist einfach ein Stück reflektierendes Plastik draufgeklebt. Warum? Keine Ahnung, vielleicht sind Fahrradlichter nicht hart genug für einen arktischen Winter. Wer weiß... Wie das während der Kaamos Zeit funktionieren soll? Also der Zeit, in der die Sonne in Rovaniemi nicht mehr aufgeht. Ich bin gespannt, ich werde es erleben.

Aber das fehlende Licht, welches schon Abertausende unbescholtene Bürger in südlicheren Regionen in Konflikt mit den niederen Ordnungsorganen gebracht hat, ist nicht das Einzige, was einen stauen lässt. Das andere ist der Umstand, dass man hier immer und wirklich immer auf dem Bürgersteig fährt. Zuerst fühlt man sich unweigerlich in Kindheitstage versetzt und man schaut vorsichtshalber nochmal nach Unten. Keine Stützreder dran! Uff, ich dachte schon... Gut die nächsten Stützreder werden die vom Rollator sein. Das hat noch Zeit, zum Glück, mindestens so ein, zwei Jahre sicher.

Völliges Chaos müsste wohl nach Ansichten eines korrekten und eloquenten deutschen Gesetzeshüters, der gerne auch mal mit der Straßenverkehrsordnung unter dem Kopfkissen schläft und seiner Angetrauten im Halbschlaf in Ohr säuselt:

Paragraph 5 Absatz 4 StVO: Wer zum Überholen ausscheren will, muss sich so verhalten, dass eine Gefährdung des nachfolgenden Verkehrs Grrrr... ausgeschlossen ist. Beim Überholen muss ein ausreichender Seitenabstand zu anderen Verkehrsteilnehmern, insbesondere Grrrr... zu den zu Fuß Gehenden und zu den Rad Fahrenden, eingehalten werden. Grrrr...

entstehen, wenn er hören würde, dass es egal ist auf welcher Straßenseite, in welche Richtung gefahren wird. Schock schwere Not! Und die Ehefrau dreht sich um und denkt sich entzückt, hab ich den Herd ausgemacht?

In Rovaniemi, fassen wir mal zusammen, darf man auf dem Bürgersteig, egal in welcher Richtung und Straßenseite mit dem Fahrrad fahren. Und man fährt auch nur so, wie irritierte Blicke von Passanten mir verrieten, als sie mich bei meinen ersten Fahrversuchen auf der Straße erblickten. Gesagt haben sie nichts, weil so was macht der Finne nicht. Er ist immer freundlich und zurückhaltend. So zurückhaltend, dass er sich nicht mal traut zu klingeln. Anstatt zu klingeln, damit man ihn vorbei lässt, radelt er solange hinter einem her, bis man es von selber gemerkt hat. Das kann dann auch schon mal länger dauern. Aber auch dann klingelt er nicht. Selten kommt es mal vor, dass die eine oder andere garstige alte Oma anfängt vor sich hin zu brummeln. Aber auch nur wenn sie es eilig hat und schlecht drauf ist, weil ihr Alter schon wieder die ganze Nacht aus der Straßenverkehrsordnung im Schlaf zitiert hat.

Wie es dann im tiefsten Winter mit dem Radeln aussieht, kann ich noch nicht sagen. Mir wurde zwar versichtert, dass auch die Fußgänger-/Fahrradfahrerwege immer picobello geräumt seien und man natürlich auch dann mit Fahrrad fahren könnte. Ich weiß noch nicht, ob ich das glauben soll und wenn ich es machen sollte, wie ich mit einer David Hasselhoff Gedächnismatte auf der Brust klar kommen werde, die mir dann wohl unweigerlich wachsen würde. Mal sehen...

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Arctic Matters

Das Reisetagebuch von Christoph Hentschel, eines Doktoranden im hohen Norden Finnlands.

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