Alte Männer in Trainingsanzügen

Weltweit Mit der Zeit entdeckt man die Gemeinsamkeiten zwischen Deutschland und Finnland. Am auffälligsten sind die, die man gerne in seinem Heimatland zurückgelassen hätte.

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Manches ist nicht nur „typisch deutsch“ und gleichzeitig „typisch finnisch“, sondern es scheint international verbreitet zu sein. Ein Beispiel dafür sind alte Männer in Trainingsanzügen und, sagen wir mal, mit „lustigen“ Kopfbedeckungen. Im „schicken“ Zweiteiler, der nicht selten mehr an einen Schlafanzug aus Kindertagen erinnert, durchstreifen sie die Supermärkte, kleinen Läden und Kioske dieser Welt. Sie kaufen nie viel, eine Zeitung, ein Lottoschein oder eine Dose Würstchen, wie sie bei Muttern gab und nach dem Krieg was ganz besonderes war.

Die Mitglieder der klandestinen Trainingsanzugsgang stellen sich dann ruhig und unauffällig in der Schlange vor der Kasse an. Sie warten geduldig, tippeln mit großer Anstrengung aber gleichermaßen festem Willen den Schritt vorwärts in der Schlange, bis sie an ihrem eigentlichen Ziel angelangt sind, der Kasse. Die Kasse oder vielmehr die Verkäuferin, die mit stoisch freundlichem Gemüt die Kunden nach einander abfertigt, ist der Grund für all diese Anstrengungen. Es muss ein für Außenstehende nicht nachvollziehbarer Reiz in diesen Verkäuferinnen für die Trainingshosengangster bestehen. Angelangt am großen Ziel setzen sie auch gleich zur Attacke an. Sie fangen noch bevor die Zeitung, der Lottoschein oder die Dose zum Einscannen überreicht ist an, wirres Zeug zu faseln, unterbrochen mit „Komplimenten“ an die Verkäuferin, die jeder und jedem Gleichstellungsbeauftragten gehörige Bauchschmerzen bereiten würden. Ist die erste Schwallsalve verschossen und die Verkäuferin wehrt sich nur mit einem müden, mitleidigem, vielleicht sogar nett gemeinten Lächeln, folgt die nächste auf dem Fuße. Während des Einscannens und automatischem Zusammenrechnens sinniert der Herr von Welt dann gerne mal, wie das so früher war. Nicht selten verknüpft mit einer fachmännisch Nachfrage an die Verkäuferin, ob es die oder die Würstchen von der oder der Firma noch gibt. Antwortet die Verkäuferin, dass es die Firma schon seit Jahren nicht mehr gibt, dann wird ein wenig mitleidig, gepaart mit einer großväterlichen Gelassenheitm, erklärt, dass sie, die Verkäuferin, dann aber wirklich einen kulinarischen Hochgenuss verpassen würde. Ist dann die Verkäuferin so leichtsinnig und erwähnt, dass sie kein Fleisch und schon gar nicht aus der Dose isst, hat der Trainingsanzug ein Gesprächsthema gefunden, was er für Stunden ausweiten kann. Antwortet die Verkäuferin jedoch, dass sie die Firma nicht kenne, ist das Ziel des endlosen, monologartigen Gespräches nicht verloren, sondern eröffnet sich in der ausschweifenden und anekdotenreichen Schilderung der Firmengeschichte der unbekannten Firma.

In dieser Schlacht um Aufmerksamkeit schreitet die Zeit wie der größte Gegner voran und man kommt nicht herum zu zahlen. Der Trick scheint zu sein, jeden Betrag, egal wie hoch er ist, in Cent Stücken zu zahlen. Diese werden einzeln auf den Tresen gelegt und jede Münze mindestens dreimal davor begutachtet, weil man ja so schlecht erkennen kann, ob es sich nun um eine 1, 2 oder 5 Cent-Münze handelt. Das Gleiche gilt natürlich für 10, 20 und 50 Cent-Münzen. Hilfeangebote der Kassierin werden dankend abgelehnt, weil man ja zu einem noch nicht so verkalkt ist, dass man beim Bezahlen Hilfe bräuchte und zum anderen würde es einem kostbare Zeit rauben und die durchaus wichtigen Ausführungen müssten gekürzt werden.

Hat man dann sogar sein Wechselgeld, ist das kein Grund zu gehen. Man kann sich ja noch langatmig verabschieden, gerne gepaart mit leicht hektischen Blicken hinter sich, ob man den Betrieb auch nicht zu sehr aufhält. Und ja, die Schlange ist dreimal länger geworden und ja, alle schauen ein wenig gelangweilt und genervt auf ihre Uhren. Mission erfolgreich und man kann seinen Trainingsanzug knistern lassen und zufrieden zum Ausgang tippeln.

Der einzige Unterschied hier in Finnland ist, dass man den alten Mann im Trainingsanzug nicht richtig versteht, weil er eine andere Sprache spricht und nicht weil er so arg in sich reinnuschelt. Aber ich bin überzeugt davon, dass es hier genauso ist wie in Deutschland und wette gerne eine Herde Rentiere oder eine Tonne Riesenbrezl’n darum.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Arctic Matters

Das Reisetagebuch von Christoph Hentschel, eines Doktoranden im hohen Norden Finnlands.

Arctic Matters

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