Rollatoren-Cyborgs und wo Brecht irrte.

Flughafen Helsinki Nachts im Flughafen Helsinki gehen merkwürdige Dinge vor sich. Da verschlägt es jedem die Sprache.

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Die Minuten tippeln so vor sich hin. Tip Tap Tip Tap. Es macht auf einmal in meinem Hirn Trippititap und mir kommt der alte, abgenutzte Spruch vom Brecht, Bertold aus Augsburg in den Sinn. „Die Finnen schweigen zweisprachig.“ Finnisch und Schwedisch meinte er damit, als er auf der Flucht vor den Nazis ein paar Monate in Finnland verbrachte bis er über Moskau nach Los Angeles gelangte. An das Samische dachte er nicht und an das Türkische konnte er damals noch nicht denken. Die Finnen haben sich nämlich einen sehr praktischen Umgang mit ihrem Sprachenwirrwarr einfallen lassen. Anstatt von Leitkultur und anderen Unkulturen zu schwafeln, lassen sie die Zahlen entscheiden. Gibt es so und so viele Sprecherinnen und Sprecher der einen Sprache im betreffenden Distrikt, dann müssen alle amtlichen Unterlagen, Anträge, Formulare etc. in dieser Sprache vorhanden sein. Gibt es noch mehr Sprecherinnen und Sprecher, dann müssen alle Verkehrsschilder und andere öffentliche Beschilderungen in der Sprache geben. So einfach geht es und basta! So kommt es, dass es im Großraum Helsinki in den Behörden alle Formulare neben Finnisch und Schwedisch auch auf Türkisch gibt und in einigen Regionen Südwestfinnlands die Straßenschilder nur auf Schwedisch vorhanden sind.

Ich sitze jetzt 9 Stunden am Helsinkier Flughafen rum. Stimmt nicht ganz. 2 Stunden dösen, 2 mal Toilette und eine Pepsi für 2,50 € gab es in den vergangenen Stunden. Aber schon mal genug Zeit die ersten Beobachtungen bezüglich den Finnen anzustellen. 14 Stunden Zwischenaufenthalt sind es insgesamt bis es weiter geht nach Rovaniemi. Die meiste Zeit davon mitten in der Nacht und so bleibt zwangsweise die Feldbeobachtung im Rahmen der natürlichen sozialen Situation „Flughafen“ begrenzt. Die Beobachtungen bleiben jedoch unstrukturiert, denn ihnen fehlt ein verifiziertes Merkmals- oder Kategoriensystem und ist so wissenschaftlich mehr als fragwürdig. Ich lasse gleich zum Anfang die Bombe platzen. Finnen schweigen nicht ständig! Finnen unterhalten sich sogar anscheinend recht gerne, nur nicht in jeder Situation. Beispiele: Ich sitze mit einem anderem Finne zusammen, schnatter, schnatter, schnatter. Ich laufe mit meiner Familie oder mit meiner Freundin die Gänge des Flughafens nachts immer wieder ab, eisiges Schweigen. Obwohl dieses Ablaufen augenscheinlich eine massenwirksame Popularität zu besitzen scheint, zieht es der Finne vor in einem gebührenden Abstand von 2 – 3 Meter zu seinen Angetrauten und vollkommend schweigend es zu vollziehen. So durchstreifen diese Klein- und Kleinstherden lautlos den Flughafen. Eine geschlechtsspezifische Eigenheit stellt der Umstand da, dass der männliche Finne, vielleicht als Statussymbol, wer weiß, die Handtasche seiner Freundin bzw. Frau in einem Gerät, das irgendwie an eine Mischung aus Einkaufswagen und Rollator erinnert, vor sich her transportiert. In dieses Konstruktion passt auch nicht mehr als eine Handtasche. Weibliche Finnen scheinen dieses Gerät grundsätzlich abzulehnen, zumindest habe ich noch nicht eine damit gesehen. Männliche Finnen scheinen es zu lieben - bis hin, dass sie eine Synthese mit ihm eingehen und zu einem Cyborg aus Finne und Rollator werden, der Rollator-Cyborg ist geboren.

Nachdem ich nicht der einzige Glückliche bin, der das Vergnügen hat, die Nacht auf dem Flughafen Helsinki zu verbringen, sondern sich auf Bänken lümmeln und mit leerem Blick auf Laptops starren, mindestens so beliebt zu seien scheint wie das Gängeablaufen, ist man nicht allein. Und damit auch niemand Angst haben braucht, durchpflügt eine Flughafenangestellte einmal die Stunde schwungvoll auf einem Roller die Gänge und umfährt gekonnt die Herden mit ihren Rollator-Cyborgs. Es ist viel los am Flughafen Helsinki mitten in der Nacht.

Dämmert es dann langsam, verschwinden die Herden, die Rollatoren-Cyborgs und die Flughafenrollerinnen spurlos. Ich versuche mich an einem finnischen Kaffee für 3,80 €. Trotz einer Überdosis Zucker merke ich schnell, hier wird grad keine Freundschaft geboren. Die Nachtfinnen werden durch die Tagfinnen und den natürlichen Anteil von hauptsächlich weiblichen Chinesen ersetzt. Zwar können die Finnen den Chinesinnen nicht das Wasser reichen, die augenscheinlich alle gleichzeitig und ohne Atempause auf einander einreden, aber mir schwand, dass Brecht die Finnen nie morgens erlebte. Zumindest bei Sonnenaufgang reden sie wild durcheinander.

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Geschrieben von

Arctic Matters

Das Reisetagebuch von Christoph Hentschel, eines Doktoranden im hohen Norden Finnlands.

Arctic Matters

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