Alter, Alter!

Kehrseite II Da stehen wir also auf dem Mittelstreifen und können uns nicht entscheiden: Daumen raus? Winken? Mit Armen überm Kopf wilde Kreuze in den Nachthimmel ...

Da stehen wir also auf dem Mittelstreifen und können uns nicht entscheiden: Daumen raus? Winken? Mit Armen überm Kopf wilde Kreuze in den Nachthimmel malen? Oder einfach auf die Fahrbahn laufen und an die Autos klopfen, die vor der Ampel warten?

Morgens halb drei in Kreuzberg. Der Nachtbus hat uns hier ausgespuckt, ohne Vorwarnung, einfach so: Endstation! O.k., hätten wir vorher auf den Fahrplan geguckt, hätten wir gewusst, dass diese Linie uns bis hierher und nicht weiter führt. Haben wir aber nicht. Und jetzt?

Andi und ich sind nicht die einzigen, die hier von den Berliner Verkehrsbetrieben fahrplangemäß ihrem Schicksal überlassen werden, aber im Unterschied zu den anderen, die alle zu wissen scheinen, wie es weitergeht, sind wir beide erstmal ratlos. Aber nur kurz, dann stapft Andi los.

So wie er die Straße überquert, wirkt es, als hätte er einen Plan. Ich laufe hinterher. Auf dem Mittelstreifen überlegen wir, wie wir die Partyheimkehrer, Frühschichtler und Schlafgestörten der Stadt davon überzeugen können, dass hier die Chance einer guten Tat auf sie wartet.

Plötzlich läuft Andi mitten auf die Fahrbahn und beugt sich zu irgendwas schepperndem Tiefergelegtem mit schwarzen Scheiben und röhrendem Motor herunter. Er klopft ans Fahrerfenster. Ein türkisch aussehender Junge kurbelt die Scheibe herunter, sein Kumpel auf dem Beifahrersitz lehnt sich neugierig über die Handbremse. Ich bete, dass die beiden keine Lust auf gute Taten haben, aber da winkt Andi mich schon freudig heran. Mit einem Gemisch aus Scham über mein pc-mäßig absolut indiskutables Grummeln im Bauch und Dankbarkeit, dass man uns nicht laufen lässt, steige ich zu Andi auf die Rückbank.

Dann geht es los. Kaum ist die Ampel auf Grün gesprungen, ist der Fahrer bemüht, seinen Gästen zu zeigen, was der Motor drauf hat. Ich weiß, dass es jetzt klüger wäre, beeindruckt zu sein, nach der PS-Zahl zu fragen, Kippen nach vorne zu reichen, die Ledersitze zu bewundern, anstatt feuchte Hände zu kriegen, stumm hinter dem Beifahrer zu versinken und zu wünschen, dass es schnell vorbei geht.

Aber noch bevor jemand was merkt, legt Andi los: "Geile Karre, Alter!" Im Rückspiegel sehe ich die Augen des Fahrers. Sie sagen, dass er sich freut. Er selbst sagt: "War ganz schöne Arbeit, kann ich dir sagen!" - "Kann ich mir denken," sagt Andi und schickt - da fehlt doch noch was? - schnell ein "Alter!" hinterher. Dann stellt er die PS-Frage. "Zwohundertfuffzisch", kommt es von vorne, sehr lässig. "Zwohundertfünfzig! Alter Schwede!" macht Andi, und ich frage mich, ob der Ausruf "Alter Schwede!" türkischen Jugendlichen bekannt ist. Egal, Andi macht unbeirrt weiter, fragt alle technischen Details ab, betont immer wieder, dass er "noch nie in so einem geilen Auto" mitfahren durfte und zwinkert mir fröhlich zu. Die Laune steigt, der Motor heult und alles stimmt.

Immer, wenn wir stehen, entschuldigen sich die beiden für das Klappern des Auspuffs. Endlich erwache auch ich aus meiner Igelstarre. "Macht doch nix", sage ich, "solange er nicht abfällt ...". Das war nicht gerade geschickt, aber immerhin ein Gegenbeweis der über dem Rückspiegel baumelnden These meiner angeborenen Taubstummheit. Zum Glück hat Andi schon wieder das Wort ergriffen. "Und was habt ihr so gemacht, heute Abend?" - "Durch die Gegend gefahren. Einfach so. Machen wir oft. Macht Bock, Alter!" - "Und was macht ihr jetzt noch?" - "Nach Hause. Muss arbeiten morgen. Halb sieben raus." "Uuuääääähh!" machen alle gleichzeitig.

Dann fragt der Fahrer, wo er uns rauslassen soll. Obwohl wir protestieren, lässt er sich nicht davon abbringen, uns bis vor die Haustür zu fahren. Ehrensache. "Danke, Alter!", sagt Andi beim Aussteigen. "Ja, vielen Dank!" sage ich. Türenknallen. Auspuffscheppern. Reifenquietschen. "Nacht, Alter!", sage ich zu Andi und schlage ihm auf die Schulter.

Ariane Greiner wurde 1973 geboren, sie arbeitet als freie Journalistin.


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