Wie es ihm geht, frage ich Sami Bekir am Telefon. Die Leitung rauscht, aber daran liegt es nicht, dass er erst noch einmal nachfragt: „Wie es mir geht?“ Wie geht es einem, dessen Frau und Kinder abgeschoben wurden und der sie seit vier Monaten nicht gesehen hat? Der 37-Jährige schweigt kurz und antwortet dann leise: „Wie immer. Beschissen. Ich vermisse meine Frau und meine Kinder.“
Vor zwei Monaten hatten Sami Bekir und ich in einer sächsischen Stadt zusammengesessen, es war unser drittes Treffen seit jenem Tag, an dem seine Frau und seine kleineren Kinder nach Mazedonien abgeschoben worden waren und an dem Sami Bekir mit seinen größeren Kindern untertauchen musste, hier in Deutschland. An jenem Sommertag blickte der gebürtige Mazedonier immerzu aus dem Fenster, in die ferne Vergangenheit des ehemaligen Jugoslawiens. „Als Tito lebte, hatten wir noch Rechte“, hatte er mehr zu sich als zu mir gesagt. Jugoslawien ist lange her und der sozialistische Staatspräsident Josip Broz Tito beinahe so lange nicht mehr unter den Lebenden, wie Sami Bekir alt ist. Es sind Berichte seines Vaters, die er stets erinnert, während er sich fragt, warum Roma in Europa bis heute ausgegrenzt werden.
Gute Nachbarn in Riesa
Dabei denkt Sami Bekir notgedrungen an seine eigene, aktuelle Lage. Sieben Jahre lebten er und seine Familie im sächsischen Riesa. Als Geduldete, ohne Aufenthaltstitel, nur mit einer Bescheinigung, dass ihre Abschiebung vorerst nicht vollzogen wird.
Aus ihrer unsicheren Situation versuchten sie das Beste zu machen. Sami Bekir nutzte sein eingeschränktes Recht auf Erwerbstätigkeit für kurze Jobs in einem Imbiss, nebenbei lernte er selbstständig Deutsch. Die Kinder besuchten erfolgreich die Schule und feierten Geburtstage gemeinsam mit Freunden und Nachbarn. „Mit den Nachbarn habe ich mich wirklich sehr gut verstanden“, sagt Bekir, und die Kontakte bestehen bis heute; viele aus der früheren Nachbarschaft drückten ihm gegenüber immer wieder aus, wie traurig sie über die desolate Lage der Familie seien.
Dabei hatte es Anfang Mai danach ausgesehen, dass die Familie das erhoffte Bleiberecht bekommen würde, die Ausländerbehörde in Riesa hatte es zugesichert. Doch es kam anders. Am 25. Mai um zwei Uhr nachts stürmten mehr als 20 Polizisten Sami Bekirs Wohnung, brachten seine Ehefrau und die drei jüngsten Kinder nach Berlin und setzten sie in ein Flugzeug nach Mazedonien. Seitdem harren sie in der Hauptstadt Skopje aus, sie kamen erst in einer 20 Quadratmeter kleinen Baracke ohne Wasser und Strom mit neun weiteren Personen unter. Jetzt wohnen sie in einer von Spendengeldern aus Deutschland bezahlten Unterkunft, zumindest mit kaltem Wasser.
Zur Lage der Roma
In Europa leben mehrere Teilgruppen der Roma, darunter deutsche Sinti, muslimische Aschkali auf dem Balkan und französische Manouches. Erste Einwanderungen von Roma in den europäischen Teil des damaligen Byzantinischen Reichs sind zwischen dem 9. und 11. Jahrhundert festgestellt worden. Heute stellen sie mit mehr als zehn Millionen Angehörigen die größte Minderheit Europas dar – und die am stärksten benachteiligte.
In Deutschland werden sie seit mehr als 600 Jahren diskriminiert. Bis heute wird der Genozid an den laut Schätzungen 500.000 Roma im Nationalsozialismus weder in Deutschland noch in damals kollaborierenden Staaten aufgearbeitet. Heute gibt es zwar Programme der Europäischen Union zur Förderung diskriminierter Roma, sie greifen jedoch kaum. In Mazedonien, Bosnien-Herzegowina und Serbien seien Roma von Gewalt und institutioneller Diskriminierung besonders betroffen, konstatierte ein Gutachten des Europarechtsexperten Reinhard Marx und der Politologin Karin Waringo im Auftrag von Pro Asyl 2014. In jenem Jahr deklarierte Deutschland die drei Balkan-Länder zu sicheren Herkunftsstaaten.
Jenem Gutachten zufolge sind 99 Prozent der bosnischen Roma arbeitslos, in Serbien sind 90 Prozent auf Suppenküchen angewiesen. In Mazedonien gelten sie als „bevorzugte Opfer polizeilicher Misshandlung“. Die Lage für Roma ist auch in den 2015 als „sicher“ eingestuften Staaten Albanien, Kosovo und Montenegro prekär. „Roma sind nirgendwo sicher“, heißt es aktuell in einer Online-Petition, die ein Bleiberecht für sie in Deutschland fordert: change.org/p/bleiberecht
Auch Sami Bekir und seine vier großen Kinder hätten abgeschoben werden sollen. Mit Hilfe von Unterstützern konnten sie dem entkommen, fanden eine Bleibe und bekamen einen Anwalt zur Seite gestellt.
Die Akten und das Schicksal der Familie beschäftigten derweil die Behörden, das Sächsische Oberverwaltungsgericht schlug der Ausländerbehörde Meißen Ende Mai eine Güteverhandlung vor. Mitte August dann konnten Sami Bekir und seine großen Kinder aufatmen, als die Landesdirektion Sachsen zusagte, ihre Anträge auf ein dauerhaftes Bleiberecht zu prüfen und sie einstweilen nicht abzuschieben. Zwar wohnt die Familie nun in einer Gemeinschaftsunterkunft, doch die Kinder gehen wieder zur Schule und in die Ausbildung. Ob ihm das Hoffnung gebe, frage ich Bekir am Telefon. Hoffnung ja, die Hoffnung will er nicht aufgeben, sagt er, doch Sorgen und Angst sind nicht weg. Sorgen und Angst als Resultat permanenter Unsicherheit – dem wollte die Familie mit ihrer Flucht nach Deutschland entkommen.
Eine Tatsache holte Sami Bekir ein: dass er staatenlos ist, was auf jugoslawische Verhältnisse zurückzuführen ist. „Damals gab es in Jugoslawien zwei Staatsangehörigkeiten, die jugoslawische und die der jeweiligen Republik“, setzt Bekir an. „Meine Großeltern zogen von Serbien nach Mazedonien, wo mein Vater geboren wurde. Meine Mutter ist ursprünglich aus dem heutigen Bosnien. Die einzelnen Gebiete waren zur Zeit Jugoslawiens aber kaum von Bedeutung.“ Erst mit dem Zerfall Jugoslawiens erlangte die zweite Staatsangehörigkeit Bedeutung. Doch Bekirs Großeltern hatten vor ihrem Umzug nach Mazedonien nicht die serbische Staatsangehörigkeit beantragt. So war Bekirs Vater 1994 staatenlos geworden, auch wenn seine Geburtsurkunde Mazedonien als Geburtsort ausweist. Für die Erlangung der mazedonischen Staatsbürgerschaft hätte Bekirs Vater aber serbische Dokumente anfordern müssen, um das Herkunftsland seiner Eltern nachzuweisen. Das hat er versäumt.
Die Folge: Sami Bekir und seine Geschwister wurden automatisch staatenlos. Vergebens beantragten sie die mazedonische Staatsbürgerschaft, bis sie im Jahr 2000 nach Bosnien abgeschoben wurden. Dort wurde Sami Bekirs Asylantrag mit der Begründung abgelehnt, dass seine Mutter ja Bosnierin sei. „Faktisch ist das richtig“, erläutert Bekir, „die Realität ist aber, dass ich schon zu alt war, um die bosnische Staatsbürgerschaft zu bekommen.“ Innerhalb von neun Jahren wurden er, seine Kinder und seine mazedonische Ehefrau von Bosnien nach Mazedonien und zurück abgeschoben. Sogar der Kampf darum, wenigstens zusammenzubleiben, war mitunter erfolglos, 2009 etwa: Frau und Kinder sollten wieder nach Mazedonien abgeschoben werden. Sami Bekir erinnert sich: „‚Nehmt mich auch mit‘, sagte ich zu den Polizeibeamten. Sie fragten dann: ‚Wo sollen wir dich hinschicken? Wir wissen alle, du bist illegal. Mazedonien will dich nicht haben.‘ Ich antwortete: ‚Gebt mir eine Woche Zeit.‘“ Dann floh er mit seiner Familie und stellte einen Asylantrag in Deutschland. Nachdem der als „offensichtlich unbegründet“ abgelehnt worden war, legte er Widerspruch ein. Fünf Jahre ist das her, seitdem wartet er auf eine Entscheidung.
Die Familie ist aber nicht nur vor der Aussichtslosigkeit geflohen. Verbale und körperliche Angriffe auf der Straße, durch Lehrer und Behördenangestellte, sie seien in Mazedonien Alltag gewesen, sagt Bekir, und ebenso das Fehlen jeglicher Aussicht auf einen regulären Arbeitsplatz, „weil ich Rom bin“. Woher die Menschen das wissen wollen, frage ich ihn. „Wegen meines Namens, ich habe einen muslimischen Namen und außerdem: Wenn du nicht Mazedonier bist, dann bist du entweder Albaner oder Rom.“
Mazedonier wie Albaner hatten es auf Sami Bekir und seine Familie abgesehen. 1999, als der NATO-Militäreinsatz hunderttausende Albaner aus dem Kosovo in die Nachbarländer trieb, war die Stimmung in Mazedonien aufgeheizt. In dieser Zeit kam es zu einem Brandanschlag auf Bekirs Wohnung. Seine zwei kleinen Kinder befanden sich darin. Bekir war im Haus gegenüber, bei seinem Vater. „‚Sami, komm schnell‘, rief mein Bruder mich, als er sah, dass maskierte Männer meine Wohnung in Brand setzten“, erzählt Bekir. „Wir haben meine zwei Kinder aus der Wohnung geholt und das Feuer selbst gelöscht.“ Ob der Rettungsdienst kam oder die Polizei? „Die Polizei? Die hat uns doch ständig erniedrigt. Was hätte sie da wohl gemacht? Nein, wir wollten nicht die Polizei rufen.“ Sechs Monate lang lagen die Kinder im Krankenhaus, noch heute sind die Verbrennungen dritten Grades an Schenkel, Brust und Oberarm zu sehen. „Sie haben die Kinder aus dem Krankenhaus entlassen, obwohl die Verbrennungen noch geblutet haben. Ich habe sie zu Hause dann selbst behandelt.“
Weil ihm in Mazedonien jede reguläre Arbeit verwehrt war, arbeitete Bekir illegal als Automechaniker. „Arbeit heißt für Roma meist Schwarzarbeit. Du bekommst so gut wie keine feste Anstellung. Außer du bezahlst dafür.“
Auch jetzt, in Deutschland, kann er nicht arbeiten. Stillsitzen aber will er nicht. Er betreibt Aufklärungsarbeit und hält Vorträge über die Geschichte der Roma. Allein in den letzten zwei Monaten habe er acht Vorträge gehalten, zwei davon in Dresden, die gut besucht gewesen seien. Als ich ihm erzähle, dass ich am 8. April am Brandenburger Tor beim internationalen Roma-Tag war, bei der Veranstaltung mit Bundespräsident Joachim Gauck, stellt sich heraus: Bekir saß wie ich im Publikum, er war extra aus Riesa angereist. Damals hatte Aydan Özoğuz, die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, in ihrer Rede des Genozids an den Roma gedacht und die besondere Verantwortung, die Deutschland deshalb zukommt, angemahnt.
Wenn Sami Bekir von der Geschichte der Roma erzählt, betont er, was viele Roma berichten: Dass die Zeit, in der Roma sozial gleichberechtigt waren, lange zurückliegt. Fluchtbewegungen hatte es schon vom Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation ins Osmanische Reich gegeben, ganz besonders, als der Freiburger Reichstag im 15. Jahrhundert beschloss, Roma aus dem Land zu vertreiben. Gingen sie nicht von selbst, galt ihre Ermordung als rechtens.
In ihrer von Verfolgung und Flucht geprägten Geschichte stellt Jugoslawien für viele Roma einen Anker dar – obwohl ihr Ursprungsland Indien ist. „Zu Titos Zeit hatte die indische Premierministerin Indira Gandhi um die Entsendung aller Roma nach Indien gebeten“, erinnert sich Bekir an Gespräche mit seinem Vater. „Tito hatte sich geweigert. Er sagte, die Roma hier gehören zu Jugoslawien.“ Als Bekirs Vater noch lebte, haben sie viel über die Geschichte der Roma gesprochen und darüber, dass die Herkunft nunmehr eine viel relevantere Rolle spielt als jener Ursprung in Indien.
Hoffnung und Hinterlist
Da Sami Bekir zwar aus Mazedonien stammt, nicht aber die Staatsbürgerschaft besitzt, hatte ein Beamter der Ausländerbehörde in Riesa Anfang Mai die Pässe der Familie eingezogen – er wolle für Bekir einen Staatenlosenpass beantragen, sagte der Mann. Und dass er eine Aufenthaltserlaubnis für die Familie vorbereite; die Hilfe durch einen eingeschalteten Anwalt schien Früchte zu tragen, zwischenzeitlich erhielt die Familie noch eine Bescheinigung, die einen gültigen Aufenthalt in Deutschland bis Anfang August sichern sollte.
Dass auf diese Art die Abschiebung vorbereitet wurde, hätte Bekir nicht gedacht. Umso tiefer sitzt die Enttäuschung über die deutschen Behörden. „Es war sehr hinterlistig. Ich verstehe nicht, wie man so etwas machen kann“, hatte er bei unserem letzten Treffen vor Monaten laut gedacht.
Heute wünscht er sich, dass er und seine ganze Familie in Deutschland wieder zusammenkommen können. Gleichzeitig träumt er von etwas, das über sein eigenes Schicksal im Hier und Jetzt hinausgeht: von einem Ort, an dem er und andere Roma einfach leben können. Nirgends sieht er die Möglichkeit hierzu heute gegeben. „Sie sagen: ‚Mazedonien für Mazedonier.‘ Ich frage mich: Warum haben wir Roma kein eigenes Land? Jeder hat ein Land. Ich bin gegen niemanden, ob Mazedonier, Albaner oder Serben. Aber sie lassen uns nicht in Ruhe. Wir wollen endlich in Frieden leben.“
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