Nazigewalt In Berlin-Neukölln brennen Autos und Läden, Menschen werden zur Zielscheibe. Doch der Bezirk wehrt sich – und knüpft damit an seine antifaschistische Tradition an
„Ich möchte das nicht in meinem Briefkasten haben!“, rief Christiane Schott den Männern zu, die vor ihrem Haus standen. In deren Händen: NPD-Propaganda. 2011 war das, kurz vor der Wahl zum Abgeordnetenhaus von Berlin, erinnert sich Schott. Es kam zum Streit. Die Männer gingen dann irgendwann. Noch am selben Abend hing ein NPD-Plakat vor ihrer Tür. Dann fingen die Anschläge an.
Erst ein Jahr zuvor war die Sozialarbeiterin mit ihrer Familie nach Berlin-Neukölln gezogen. Die südliche Hufeisensiedlung, wo sie heute lebt, kannte sie vorher nicht. Später erfuhr sie, dass zwei Straßen von ihr entfernt der Anarchist Erich Mühsam mit seiner Ehefrau, Katze und Hund gewohnt hatte, bevor das Nazi-Regime ihn 1934 im Konzentrationslager e
onslager ermordete. In jener Zeit regierten SPD und KPD im Bezirk. Die menschenunwürdigen Wohnverhältnisse in den 1920er Jahren veranlassten den Bau der Großsiedlung Britz im Süden. Kommunisten, Sozialdemokraten und Künstler zog es in die Häuserreihen und hufeisenförmigen Bauten. Auch NSDAP-Mitglieder.Anfangs hatte Christiane Schott gezögert, dort zu wohnen. „Sehr spießig“ fand sie es, „und eher ein bisschen eng: Haus an Haus, Garten an Garten“, beschreibt die 56-Jährige die moderne Architektur von Bruno Taut. Die ruhige Lage und das geeignete Haus überzeugten sie schließlich. Als ein Zimmerfenster eingeschlagen, der Briefkasten gesprengt und drei weitere Anschläge verübt wurden, kamen wieder Zweifel auf. An Wegziehen hatte sie gedacht, zurück nach Kreuzberg, wo sie in Wohngemeinschaften „offensichtlich unter einer Käseglocke gelebt“ hatte. Sie sprach mit Freunden und Bekannten über die Vorfälle. „Sonst bleibt man traumatisiert, oder man wird krank“, sagt sie. „Das kriecht in den Alltag rein, diese Angst.“ Ihr offenherziger Blick zieht sich zusammen. „Das ist das Ende. Man ist natürlich nie so frei und unvoreingenommen.“Christiane Schott machte die Vorfälle danach öffentlich. In einer Dokumentation des RBB sieht man, wie sie NPD-Mitglieder konfrontiert und von ihnen verhöhnt wird. Warum sie das tue, fragten Freunde hinterher. Das habe ihr geholfen, antwortete sie. Sie habe gemerkt, wie „unsicher und primitiv“ die NPD-Anhänger argumentierten, zugleich sei sie schockiert gewesen über deren „boshafte Äußerungen“. Nachbarn boten ihre Hilfe an, andere beschimpften sie, eine ältere Frau spuckte sie gar an. Einige hätten ihr anvertraut, wie sie selbst von Rechtsradikalen bedroht worden waren.Hufeisern gegen RechtsDas war der Moment, als Christiane Schott mit Nachbarn die Bürgerinitiative „Hufeisern gegen Rechts“ gründete. Und sich entschied, zu bleiben. Wegen der Solidarität. Und um sich zu wehren. Sie gehen zusammen auf Demos, zu Kundgebungen vor dem Rathaus und beraten sich bei Treffen. In der Siedlung wurden erneut Übergriffe verübt, „fast jede Woche“, betont Christiane Schott. Zwei, drei Jahre lang wurde es plötzlich ruhig. Vor einem knappen Jahr dann brach eine Anschlagsserie aus, die es so roh noch nicht gegeben hatte.Matthias Müller von der Mobilen Beratung gegen Rechtsextremismus dokumentiert die Attentate auf Personen, die sich gegen Rechtsextremismus engagieren. Von Mai 2016 bis März 2017 zählt er in Neukölln zehn Brandanschläge – acht auf Autos, einer auf einen Wagenplatz und einer auf ein Café-Kollektiv. Hinzu kommen zwölf Stein- und Flaschenwürfe gegen Wohnungen. Und 14 gezielte Bedrohungen, bei denen die Vor- und Zunamen der Personen großflächig an Häuser gesprüht wurden, gefolgt von Beleidigungen.Bei einer Solidaritätskundgebung Ende Januar ist Christiane Schott aufgebracht. Sie spricht ins Mikro: „Wie kann es sein, dass hier in der Siedlung, im Bezirk Neukölln, engagierte Menschen bedroht, überfallen, Briefkästen gesprengt werden? Für mich sind das kriminelle rechte Täter, und das ist Terror, das muss man so benennen!“ Unter den Zuhörern ist das Kollektiv der Galerie Olga Benario, ein antifaschistisches Forum im Norden Neuköllns. Die Gruppe erinnert in Lesungen und Ausstellungen an Verfolgte des Nazi-Regimes, den Widerstand der Neuköllner Arbeiterbewegung, den Protest der Rütli-Schüler und an die Namensgeberin der Galerie, die Kommunistin Olga Benario, die in direkter Nähe gewohnt hatte und im KZ ermordet wurde.Claudia von Gélieu ist seit dreißig Jahren Teil der Galerie. Nur eine Woche nach der Soli-Kundgebung werden die Historikerin und ihr Ehemann lebensgefährlich bedroht. An ihrem Wohnort in Rudow, südlich der Hufeisensiedlung, sehen sie nachts, wie ihr Auto vor dem Haus brennt. Die Polizei wird später per Pressemitteilung erklären, Menschen seien nicht in Gefahr gewesen – ohne die Zufälle zu erwähnen, die den Hausbrand verhinderten. Das hat Claudia von Gélieu sehr verärgert. Sie habe auch nicht verstanden, warum die Zeugen erst einen knappen Monat später vernommen wurden. Dabei hat das Landeskriminalamt im vergangenen Januar die Sonderkommission „Rechtsextremistische Straftaten in Neukölln“ eingerichtet.Die Ermittlungen der Polizei entmutigten auch Christiane Schott. Keiner der verübten Anschläge auf sie ist bisher aufgeklärt worden. Indizien zu potenziellen Straftätern gibt es allerdings: Der „Nationale Widerstand Berlin“ etwa stellte bis 2012 regelmäßig Namenslisten und Privatadressen von Antifaschisten ins Internet und bedrohte sie bei Kundgebungen. Das Vorgehen wiederholten die sogenannten „Freien Kräfte Berlin-Neukölln“ bis November 2016. Die Internetauftritte beider Gruppen sind in der Folge gelöscht worden.Claudia von Gélieu ist besorgt über die vergangenen Anschläge, bei denen Menschen direkt an ihrem Wohnort angegriffen wurden. Vergleiche zu Neukölln 1933 kommen auf, während wir uns in der Galerie Olga Benario unterhalten. Gegenüber in der Karl-Marx-Straße tummelt sich das Leben Nordneuköllns: Familiengruppen vor türkischen Gemüseständen, junge Leute in Modegeschäften, Kita-Gruppen neben Senioren. Dazwischen Bauarbeiter, die seit zwei Jahren jene Straße ausbauen, die den Norden und Süden des Stadtteils verbindet. Hier reihen sich die Superlative aneinander: Mit seinen 328.000 Einwohnern – 7.300 auf einen Quadratkilometer – ist Neukölln der am drittdichtesten besiedelte Bezirk Berlins nach Friedrichshain-Kreuzberg und Mitte, zudem der Bezirk mit dem niedrigsten Bildungsstand, der größten Armutsgefährdung und der höchsten Abhängigkeit von Sozialleistungen. Unter jungen Leuten und Künstlern gilt Neukölln als angesagt. Problemkieze entwickelten sich zu Treffpunkten von Hipstern. Die günstigen Mieten lockten sie einst an. Nun treibt sie der Wohnungsmarkt wieder fort: Nirgendwo sonst in der Stadt stiegen die Mietpreise so stark, im Schnitt um 73 Prozent seit 2007. Neukölln hat viele Facetten. Eine Neonazi-Szene jedoch schien hier unvorstellbar. „Zumindest im Norden“, bemerkt Claudia von Gélieu. Dass aber genau dort 2009 die Schaufensterscheiben ihrer Galerie eingeschlagen und mit Nazi-Aufklebern bedeckt wurden, sei ungewöhnlich gewesen, „während in Rudow, am Verkehrsknotenpunkt Rudower Spinne, seit den 1990er Jahren regelmäßig Nazis Kundgebungen organisiert haben“.Was Egon Erwin Kisch schriebWie konnte die Szene dort entstehen? Es mag am politischen Rechtsruck der Bundesrepublik nach der Wiedervereinigung liegen, an mangelnder Aufarbeitung des Nazi-Regimes und am Kleinbürgertum, das „alles, was es nicht kennt, zum Feind macht“, sinniert die Historikerin. Kritisch betrachtet sie jene Wähler, die dafür gesorgt haben, dass die AfD seit kurzem in der Bezirksverordnetenversammlung sitzt: „Alle, die erklären, ich wähle AfD und gehe zu Pegida, aber ich bin nicht rechts und kein Nazi, die zähle ich zu denen, die mit verantwortlich sind für das, was in Rudow passiert. Wenn sie sich nicht dazuzählen, will ich eine Distanzierung hören.“Der Appell klingt wie ein Echo von 1933: Bei den Reichstagswahlen am 5. März setzten sich in Neukölln SPD und KPD gegen die NSDAP durch. Der faschistische Terror war da längst zugange. Ein paar Tage zuvor, in der Nacht des Reichstagsbrands, wurden Nazi-Gegner verhaftet und vernommen. So wie der Reporter Egon Erwin Kisch. In den Fluren des Polizeipräsidiums am Alexanderplatz sah er Erich Mühsam, „ein ewiger Junge trotz des Vollbarts“, und Carl von Ossietzky: „Deutschlands Demokrat, der allen Ausbrüchen von Spott und Hass zum Trotz erklärt hatte, man müsse Thälmann wählen, denn ‚wer Hindenburg wählt, wählt Hitler‘. Heute ist es genau ein Monat, seit Hindenburg das deutsche Volk an Hitler ausgeliefert hat, seit einem Monat spottet keiner mehr von den demokratischen und sozialdemokratischen Hindenburg-Wählern.“Placeholder link-1
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