Boom-City am Saigon-River

VIETNAM Beim Aufstieg der Privatwirtschaft und der Suche nach Investoren kann der Süden seine Standortvorteile genießen

Monatelang unter Malariaanfällen leidend marschierte der Soldat Kien quer durch Laos - und träumte von Phuong. Dann lag er verwundet in der Klinik Nr. 8- und träumte von Phuong. Und als er die drei Kameraden exekutieren sollte, die unschuldige Mädchen ermordet hatten, musste er wieder an Phuong denken. "Du wirst also eine Menge Menschen töten", hatte sie ihn einst verabschiedet. - Das offizielle Vietnam, für das der Krieg gegen die Amerikaner heute ein Heldenepos ist, hat Bao Ninh´s Roman Das Leid des Krieges, das von Schmerz, Brutalität und dem Verlust der Humanität berichtet, auf den Index gesetzt. Doch niemand kümmert sich um dieses Verbot - jeder Buchladen und jeder Straßenhändler zwischen Viet-Bac-Gebirge und Mekong-Delta führt das Buch in seinem Sortiment. In Vietnam ist Bao Ninh´s Erlebnisreport ein Bestseller. "Ein sehr erfolgreiches Werk", bestätigt eine Verkäuferin geschäftstüchtig, "es verkauft sich gut". Sie will es für den Sonderpreis "von nur zehn Dollar" abgeben. Nach dem üblichen Gefeilsche verkauft sie die Raubkopie schließlich für 60.000 Dong - vier Dollar.

Business siegt heute über die Ideologie, besonders in Ho-Chi-Minh-Stadt, dem ehemaligen Saigon. Scharen von Fahrrädern und Mopeds, Baustellen, Hochhäuser und riesige Reklamewände von Nissan oder Siemens dominieren das Stadtbild. Über dem Saigon-Fluss, einem der zahlreichen Nebenarme des Mekong in seinem weitläufigen Delta, leuchtet wieder Deutschlands berühmtester Stern. Auf dem Markt von Cholon - der chinesisch dominierten Zwillingsstadt - stapeln sich Schokoriegel der Marke Alpenliebe neben Keksdosen mit dem Label Gong Xi Fa Caioder Happy Bites, dazu kommen Shirts von Gap und Adidas, bergeweise Handtücher, Bettwäsche, Blusen, Jeans und Handschuhe, die bis zum Oberarm reichen, um in der heißen Sonne nicht die vornehme Blässe zu verlieren, auf die alle Asiaten - selbst die dunkelsten - versessen zu sein scheinen. Die neuen pastellfarbenen Häuser im postmodernen Art-Deco-Design mit der aus Steuergründen schmalen Straßenfront und den dorischen Säulen zeugen vom Erfolg der Händler.

Zwar blitzt auch in Hanoi zwischen den altersschwachen Stromkabeln, die bündelweise über den Straßen hängen, aufdringliche Neonreklame, locken zwischen all den Straßenküchen, Karaoke-Bars und Kiosken auch schon gut beleuchtete, frisch renovierte Schmuck-, Uhren- und Modeboutiquen, Kunstgalerien, Restaurants und Cafés. Doch immer noch ähnelt Hanoi mit seinen von klassizistischen Säulen und Balkonen geschmückten Stadtvillen der ehemaligen Kolonialherren weit mehr einem verschlafenen Provinzrefugium Südfrankreichs als einer Hauptstadt.

"In Hanoi ist die Regierung", beschreibt ein Händler in Ho-Chi-Minh-Stadt den Unterschied, "hier aber ist die Wirtschaft". Tatsächlich tragen die drei Millionen Einwohner der Kapitale nur sieben Prozent zu Vietnams Bruttoinlandsprodukt (BIP) bei, die fünf Millionen Südvietnamesen in der Südmetropole hingegen 20. Während das Pro-Kopf-Einkommen landesweit 360 Dollar beträgt, liegt es in Ho-Chi-Minh-Stadt schon bei 1.500 und in Hanoi immerhin bei 960 Dollar pro Jahr. Während sich Hanoi 452 ausländisch finanzierter Projekte rühmt, listet der umtriebige Rivale schon doppelt so viel auf. Diese Geschäftskultur verdankt der Süden zum großen Teil seiner geographischen Lage und der französischen Kolonialherrschaft. Das warme, feuchte Klima des Mekongdeltas mit seinen fruchtbaren Böden - zwei natürliche Ressourcen, die dem rauhen Norden fehlen - erlaubte immer schon die äußerst profitable Anlage ausgedehnter Kautschukplantagen, was einst Tausende europäischer Siedler nach Saigon lockte. "Dort konkurrierten sie mit chinesischen Händlern und einer neureichen vietnamesischen Bourgeoisie", schreibt William J. Duiker in seiner umfassenden Biographie des Staatsgründers Ho Chi Minh, nach dem Saigon 1975 benannt wurde, und fährt fort. "Mit seinen Textilwebereien, Zement- und Konservenfabriken wurde Saigon schnell zum industriellen und kommerziellen Zentrum Vietnams."

So verwundert kaum, dass sich die erste Börse des Landes in Ho-Chi-Minh-Stadt etabliert hat und vier der fünf dort geführten Unternehmen ehemalige südvietnamesische Staatsfirmen sind. Nirgendwo sonst wird die Privatisierung so energisch vorangetrieben wie hier am Saigon-River. 40 Prozent des Bruttoinlandsprodukts wurden im Jahr 2000 von Privatfirmen erwirtschaftet - neun Zehntel davon siedeln im Süden.

Vietnam liege "einige Jahre hinter dem chinesischen Experiment", meint ein deutscher Ökonom in Hanoi. Man habe "weniger Mut zu Veränderungen". Unter ausländischen Wirtschaftsanalytikern kursiert die Formel: Laos hinkt fünf Jahre hinter Vietnam her, Vietnam wiederum fünf Jahre hinter China. 1999 jedoch verabschiedete die Kommunistische Partei (KPV) ein neues Unternehmensgesetz, in dessen Folge allein im folgenden Jahr 13.000 Unternehmen neu gegründet oder registriert wurden. Außerdem wurde der Wirtschaftsreformer Truong Tan, ehemaliger Parteichef von Ho-Chi-Minh-Stadt, zum Vorsitzenden des Wirtschaftskomitees der Partei ernannt. Das hat der Privatwirtschaft offenbar nicht nur einen enormen Schub verschafft, sondern wurde vor allem auch als Kampfansage gegen Korruption und Bürokratie verstanden.

"Der Handel mit Deutschland floriert", urteilt Le Trang, DIHT-Repräsentant in Hanoi. In der Tat wächst der Warenverkehr mit dem größten europäischen Handelspartner Vietnams jährlich in zweistelliger Größenordnung mit einer Produktskala, die von Kleidung über Kaffee und Tee bis zu Garnelen reicht. "Immerhin", so Le Trang, "sind inzwischen 220 deutsche Firmen, darunter 30 bis 40 mit Herstellungsniederlassungen in Vietnam präsent." Seidensticker agiert im Bartergeschäft, Triumph produziert Damenunterwäsche für den regionalen Markt, Heidelberger Druckmaschinen eroberten 60 Prozent Marktanteil, und Siemens plant ein 400 Millionen Dollar Kraftwerksprojekt.

Hanoi versucht, unter allen Umständen Anschluss zu halten. Für den Planungszeitraum bis 2010 sucht die Kapitale 13 Milliarden Dollar Auslandsinvestitionen (!), die vor allem in die Infrastruktur und eine auch in Vietnam boomende Informationstechnologie, die Leichtindustrie und Nahrungsmittelverarbeitung fließen sollen. Der Manager einer internationalen Umzugsfirma bestätigt, was viele in Vietnams Geschäftswelt beobachten. "Der Exodus ausländischer Firmen, wie er nach der Asien-Krise einsetzte, scheint erheblich zurückgegangen zu sein. Für jeden ausländischen Geschäftsmann, der das Land verlässt, tauchen heute vier oder fünf neue auf. Drei Viertel davon wollen nach Ho-Chi-Minh-Stadt."

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