Mit einem Eisen auf dem Bauch über Bord

Indonesien Nicht nur in der Straße von Malakka zwischen Sumatra und Malaysia erlebt die Schiffspiraterie einen ungeahnten Aufschwung

Polizeifahrzeuge preschen mit Rotlicht und Sirenengeheul durch die Straßen. Auf der Ladefläche eines Pritschenwagens liegt der Leichnam eines Mannes. Kaum jemand lässt sich blicken, niemand weiß etwas. Niemand redet. Ein paar Frauen schauen aus den Fenstern, um den Fremden ihre Verachtung zu zeigen. Fremde sind hier immer Polizisten in Zivil oder Agenten von Versicherungen - beide gleichermaßen unbeliebt.

Gestern haben einige aus dem Ort am Rande von Belawan auf Sumatra einen Trawler überfallen, zwei der Seeleute über Bord geworfen und die wenigen Habseligkeiten der Fischer geraubt. Einen von beiden hat die Wasserpolizei inzwischen tot aufgefischt. "Die Menschen hier sind fromme Moslems, die mit allem, was sie tun, nur ihren Lebensunterhalt verdienen", behauptet Budi, der zur Zeit als Taxifahrer arbeitet, im "Hauptberuf" aber Pirat ist.

Alle in seinem Küstendorf geben Fischer als Beruf an - und alle leben von der Piraterie. Nichts erinnert in der Bucht an der 500 Seemeilen langen Straße von Malakka zwischen Malaysia und Sumatra, die täglich von 600 Schiffen passiert wird, an vergangene Zeiten, als Piraten noch von ihren Regierungen geschützte und geschätzte Freibeuter waren - an die Glanzzeiten der Käpt´n Kidd, Francis Drake oder Edward Teach.

Langes Haar, um das Gesicht zu tarnen

Armselige, aus Holz zusammen gezimmerte Hütten ohne Strom und Wasseranschluss stehen auf hohen Stelzen im Sumpf der Ebbe. Der Gestank von Tang und Schmutz, der in der brennenden Sonne trocknet, lastet über einer brütenden Stille, ehe das steigende Wasser der Flut für sechs Stunden die Luft reinigt. Weil er mit der Fischerei seine Familie nicht ernähren konnte, sei er 1983 in die Piraterie gewechselt, erzählt der 43jährige Budi aus dem Kampong Bahagia. Begonnen habe er als schäbiger Amateur. "Damals hielten wir Ausschau nach einem möglichst leichten Fang." Seit einigen Jahren übernehme er nur noch "Auftragsarbeiten", meide aber europäische Schiffe. "Wir wissen, dass die Besatzungen bewaffnet sind." Tatsächlich trifft das auf die wenigsten Frachter zu, offiziell sind nur israelische und russische Besatzungen bewaffnet. Versicherungen wie Reeder fürchten, Maschinenpistolen an Bord könnten die Korsaren zu noch größerer Gewalt provozieren. Sobald die Straße von Malakka erreicht ist, werden die Kapitäne über Funk gewarnt und die Crews in Alarmbereitschaft versetzt. Jeder Seemann, der nicht zur Wache eingeteilt ist, muss sich in seiner Kajüte einschließen.

Haben Budi und seine Gang ein "geeignetes Objekt" entdeckt, werden die grauen, mit schmutzigem Sand bestrichenen Schnellboote klargemacht, auf denen es keine Aufbauten gibt, um eine Identifizierung zu erschweren. Bei jeder Operation wird ein anderer Bootstyp verwendet. Die Besatzungen tragen nur Hosen und sehr langes Haar, das oft bis weit über den Rücken reicht, um damit das Gesicht tarnen zu können.

Gekapert wird fast immer in Küstennähe. Mit einer Gruppe an Bord, die bis zu sieben Mann stark sein kann, nähert sich ein Speedboat dem ausgesuchten Schiff. "Wir sind stets", erzählt Budy, "mit Macheten und Schwertern bewaffnet, nur einer hat eine Pistole - zur Abschreckung."

Ihr Aktionsradius erstrecke sich "von Nordsumatra bis hinunter nach Westjava". Jeder Coup, der in der Regel unmittelbar vor oder nach Mitternacht startet, "muss in einer Stunde abgeschlossen sein". Am liebsten, meint Budy, seien ihm die Unternehmungen während der Monsunzeit. "Wenn es regnet, läuft die Polizei höchst ungern zur Patrouille aus", schließlich sei dann die Sicht viel schlechter. "Wir attackieren immer von Luv, das erleichtert das Kapern eines Schiffes. An Bord musst du auf jeden Fall einen Seemann verwunden, um die andern einzuschüchtern und die Aufmerksamkeit auf den verletzten Kameraden zu lenken." Sobald die ganze Crew überwältigt sei, kämen Trawler und Fischerboote, um die Ladung zu übernehmen.

Die "Order" komme meist von hohen Angestellten der Hafenbehörden, deutet Budy an, die lieferten exakte Angaben, welche Container Ziel der Operation seien und wo die verstaut wurden. Als tatsächliche Auftraggeber aber gelten "die Chinesen", wie es auf Sumatra heißt - mit anderen Worten: global operierende Syndikate.

Ende 1998 überfielen Piraten den chinesische Frachter Chang Sheng, der Rohstoffe von Malaysia nach Shanghai transportierte. Sie stülpten den 23 Besatzungsmitgliedern Plastiktüten über die Köpfe, erschlugen und erstachen sie, beschwerten die toten Körper und warfen sie über Bord. Die Piraten, die sich von ihrem mächtigen Auftraggebern beschützt wähnten, fotografierten sich bei diesem Massaker gegenseitig. Durch diese Bilder konnten die Täter später überführt werden - 13 von ihnen verurteilte ein Gericht in Shanwei zum Tode. Der "Boss", der einflussreiche chinesische Geschäftsmann David Wong, wurde gleichfalls verhaftet, kam aber mit einer Gefängnisstrafe von sechs Jahren davon.

"Jeder muss mindestens fünf Millionen Rupiah (500 Euro) verdienen", erklärt Budi seine Vertragsbedingungen, "manchmal sind es auch 20 oder 30 Millionen." Der Betrag steht in keinem Verhältnis zum Wert einer geraubten Fracht, der oft bei mehreren Millionen Dollar liegt. Von den erbeuteten Waren zweigen die Piraten selten etwas für den Eigenbedarf oder Weiterverkauf ab. Ihnen steht kein Verteilungsnetz zur Verfügung, sie haben keine Kontakte zu den Spotmärkten, zu potenziellen Käufern von Rohöl, Zement, Medikamenten oder elektronischem Gerät.

"Juliana" alias "Mariana" alias "Verona"

Zwar wurde Piraterie schon 1856 in der "Pariser Erklärung", die übrigens von den USA nie unterzeichnet wurde, international geächtet, doch seither nahm das Gangstertum auf See immer wieder einen angeahnten Aufschwung - seit den neunziger Jahren sieht es sich geradezu von einer Hochkonjunktur erfasst. 1999 wurden dem International Maritime Bureau (IMB), einer Dachorganisation von Banken, Reedern und Versicherungen in Essex, weltweit 106 Piratenangriffe auf Schiffe gemeldet, vor zwei Jahren waren es 370 und 2003 über 460. Experten vermuten, die Dunkelziffer könnte dreimal so hoch sein. Als gefährlichste Regionen für Schiffe aller Art gelten die Gewässer um die 14.000 Inseln Indonesiens, von denen etwa ein Drittel aller Überfälle ausgeht, dicht gefolgt vom Golf von Bengalen mit seiner von Schären und dem Gangesdelta aufgerissenen Küste.

Besonders in diesen Gewässern lassen Händler, Reeder, Kapitäne und Piraten ganze Schiffe und Ladungen verschwinden. Im Schnitt aller drei Wochen hört IMB-Direktor Noel Choong in Kuala Lumpur von einem neuen "Phantomschiff". Dabei kaufen Syndikate zur Verschrottung angebotene Frachter auf und versehen sie mit gefälschten Papieren, um sie als Charter wiederauferstehen zu lassen, die für den Transport von Reis, Kautschuk, Aluminium oder Palmöl angeboten werden. Der ahnungslose, von attraktiven Frachtraten gelockte Kunde schließt ein vermeintlich lukratives Geschäft ab, um bald darauf zu erfahren - das Schiff samt Schiffseigner und Ladung sei auf mysteriöse Weise verschwunden.

Die thailändische Polizei rätselt beispielsweise noch heute, drei Jahre nach den Ereignissen, was genau mit dem Frachter Juliana geschehen ist. Begonnen hatte die Irrfahrt des Schiffes mit einer Ladung Stahlplatten, die von der Group Steel Corp. auf den Philippinen bei der indonesischen P.P.Krakatua Steel Company bestellt wurde. Group Steel vergab die Frachtorder an die ebenfalls in Indonesien ansässige P.T. Ocean Goldball Shipping. Zwar nahm die den Auftrag an, gab ihn aber - da ihr kein Schiff zur Verfügung stand - weiter an die Good Star Shipping Ltd., die schließlich die Stream Marine unter Vertrag nahm. Aber auch diese Reederei sah sich in Ermangelung eines Frachters außerstande, den Auftrag auszuführen, und wandte sich deshalb an die indonesische P.P. Daya Lutenphanki, die den Stahl schließlich mit der Juliana nach Manila transportieren wollte.

Am 4. August 2000 verließ der 218.000 BRT-Frachter Tanjung Priok, den Hafen von Jakarta. Wenige Tage später erhielten die Hafenbehörden in Manila eine Nachricht des Kapitäns, wonach die Juliana einen Maschinenschaden habe und repariert werden müsse, folglich verschiebe sich die Ankunft vom 10. auf den 17. August. Als es auch am 23. August noch kein Lebenszeichen des Schiffes gab, kontaktierte die philippinische Schifffahrtsbehörde ihre Partner in Singapur, Kuala Lumpur, Tokio und Ho-Chi-Minh-Stadt. Zugleich flog der Manager der Good Star Shipping Ltd. nach Bangkok, wo er die Juliana unter anderem Namen vermutete. Unweit der Hafenstadt Chonburi - 70 Kilometer südöstlich von Bangkok - ankerte der Frachter MV Mariana, den der Manager als die Juliana identifizierte. Doch ehe die Polizei zugreifen konnte, war die Mariana verschwunden.

Die thailändische Polizei ermittelte, dass die Juliana schon seit Jahren unter den verschiedensten Namen und Flaggen, von der lokalen Mafia gechartert, im Schmuggelgeschäft fuhr. Die Fahnder arbeiteten sich durch Berge von Dokumenten, um die häufig wechselnden Besitzer des Schiffes zu ermitteln. "Es ist möglich, dass eine Gang das Schiff entführte und in den Golf von Thailand steuerte, wo dank lokaler Helfer die Zollabfertigung und der Verkauf des Stahls vonstatten gehen sollten", vermutet ein Polizeioffizier in Bangkok. "Wir bezweifeln aber, dass es nur um Stahlplatten ging."

Gegen Ende September 2000 schließlich erhielten die Ermittler einen Tipp, wonach die Juliana alias Mariana erneut vor Chonburi liege: unter honduranischer Flagge und dem Namen Verona. Diesmal griffen die Behörden sofort zu: Verblüfft beobachteten die Touristen am Strand von Bang Sean den Helikopter, aus dem sich eine Kommandoeinheit auf die Brücke der Verona abseilte und den burmesischen Kapitän samt Crew festnahm. Das Schiff wurde beschlagnahmt. "Wir versuchen bis heute, Licht in die Sache zu bringen", meint der Polizeioffizier. "Einiges bleibt rätselhaft."

Relativ risikoarm und hoch profitabel

Auch Budis Operationen laufen nicht ohne Komplikationen ab. "Letzten Oktober überfielen wir bei Pulau Batuputik mit der ›Kota Bulay‹ ein Containerschiff, das unter der Flagge Singapurs fuhr und Zigaretten geladen hatte, als plötzlich ein Patrouillenboot der Polizei auftauchte. Wir versuchten, uns abzusetzen, aber die jagten uns mehrere Stunden. Nahe der Küste sprangen sechs von uns über Bord. Der Siebte floh mit dem Speedboat in die Mangrovensümpfe, wohin ihm das Polizeischiff wegen seines Tiefgangs nicht folgen konnte. Sie haben uns die ganze Zeit beschossen." Als die Polizisten aufgeben mussten, kehrte das Speedboat zurück, um die verstreuten Piraten einsammeln, von denen einer tödlich getroffen war.

Wie die meisten Indonesier glaubt auch Budi an Geister und übernatürliche Kräfte. So sei er 1992 auf einem gekaperten Schiff einem Seemann aus Kalimantan begegnet, "der behauptete, unter einem magischen Bann zu stehen und vor Kugeln, Hieb- und Stichwaffen geschützt zu sein. Also fesselten wir ihn, banden ihm einen schweren Eisenklotz auf den Bauch und warfen ihn über Bord."

Die Piraterie sei "ein historisches Problem", zitierte die London Review of Books das Institut für Verteidigung und Strategische Studien in Singapur: "Sie ist in den Gesellschaften verwurzelt." Dort wo die Kidd, Drake, Dampier oder Lafitte einst operierten, blühe das Geschäft heute erneut, im Delta des Ganges, am Horn von Afrika, in der Karibik, in der Java-See oder im Chinesischen Meer - gebunden an drei Voraussetzungen: eine Tradition der Freibeuterei, politische Instabilität und lohnende Beute. Was für Francis Drake einst die spanischen Galeeren waren, sind für heutige Piraten die Containerschiffe. Zudem seien die Weltmeere, so das Institut, "die am wenigsten kontrollierten Regionen der Welt". Das Seerecht werde nur in nationalen Gewässern durchgesetzt. Jenseits eigener Hoheitsgebiete existiere kein Gesetz mehr, so dass die Piraterie zu einem relativ risikoarmen und hoch profitablen Unternehmen werde.


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