"Korea! Hörst du mich, Korea? Wir haben gewonnen", beendete der nordkoreanische Radiojournalist seine Reportage von einer der größten Sensationen, die der Fußballsport je gesehen hat. Pak Doo Ik hatte mit einem gewaltigen Schuss das Ausscheiden des Fußballgoliaths Italien besiegelt und er Nordkorea ins Viertelfinale der Fußball WM gewuchtet. "Der Fall des Römischen Reiches ist nichts dagegen", brüllte ein übereifriger Reporter ins Mikrophon. Niemand hatte damals, 1966, in der Endrunde zur Fußball WM in England die Winzlinge aus dem abgeschotteten, nahezu unbekannten und von einem der rigidesten kommunistischen Regime der Welt beherrschten Nordkorea auf der Rechnung.
Um ein Haar hätten sie nicht einmal teilnehmen können. Die Qualifikation der vermeintlichen Punktelieferanten bereitete der britischen Regierung erhebliche Kopfschmerzen. Großbritannien hatte, nur 13 Jahre nach dem Koreakrieg, an dem seine Truppen als Teil der UN-Streitkräfte teilgenommen hatten, keine diplomatischen Beziehungen zu Pyongyang. Die Einreise des offiziellen Teams aus dem Feindesland wäre womöglich einer diplomatischen Anerkennung gleichgekommen. Schließlich erteilte London doch - gegen die lautstarken Proteste des südkoreanischen Botschafters - die Einreisegenehmigung, allerdings unter nahezu unwürdigen Bedingungen: Die nordkoreanische Flagge durfte nicht gezeigt, die Hymne nicht gespielt werden, die Nennung des offiziellen Namens Demokratische Volksrepublik von Korea war untersagt. Doch dann machten sich die Nobodies aus dem Feindesland daran, die Herzen der britischen Fußballfans im Sturm zu erobern. Im ersten Spiel unterlagen sie erwartungsgemäß der Sowjetunion mit 3:0. Im zweiten erreichten sie gegen Chile, den Dritten der vorangegangenen WM, ein Unentschieden.
Für zehn Tage flackerte die Brillanz eines unbekannten Teams über den Sporthimmel der Welt, um ebenso plötzlich wie sie aufgeflammt war, wieder zu erlöschen. Danach kursierten nur noch Gerüchte. Ein zorniger Kim Il Sung habe die Spieler bei der Heimkehr verhaften lassen, weil sie nach ihrem Sieg etwas zu ausgelassen mit Damen und Ale, Stout oder Guiness gefeiert hätten. Einige seien in den eiskalten Gulags gestorben.
Im November diesen Jahres erhielten britische Dokumentarfilmer erstmals die Gelegenheit, mit den Überlebenden jener Mannschaft zu reden, ihre Geschichte zu filmen und die Gerüchte zu widerlegen. Auf vier Seiten berichtet die neueste Ausgabe der Far Eastern Economic Review über dieses Märchen aus dem fernen Osten. "Diese Burschen waren die Helden meiner Kindheit", erzählt der Dokumentarist und Fußballfan Dan Gordon. "Für viele war die Geschichte der Weltmeisterschaft von 1966 die Geschichte dieser kleinen Koreaner, die niemand kannte." Sie waren in Gordons Heimatstadt Middlesbrough untergebracht, dessen Mannschaft gerade in die Drittklassigkeit abgestiegen war. Da fiel es den Arbeitern der nordenglischen Stadt leicht, sich mit den Underdogs aus Korea zu identifizieren.
"Ehe wir nach England fuhren, sagte uns der Große Führer, wir könnten nicht erwarten, den Titel zu gewinnen, aber wir könnten sicher ein, zwei Spiele gewinnen", erzählt Pak, der Schütze jenes goldenen Tores, das damals Fußballgeschichte machte. Kim Il Sung hatte den Spielern geraten, ihre größte Stärke auszuspielen, ihre Schnelligkeit. Er habe den Geist Chonlimas beschworen, des "1000-Ligen-Pferdes" aus der chinesischen Mythologie. Weit lebensnaher als Perseus, der in der griechischen Sage auf Pegasus zu Andromedas Rettung eilte, erzählt eine chinesische Legende vom Ministerpräsidenten Bole eines alten Reiches, der im Auftrag seines Kaisers im ganzen Land nach qualifizierten Administratoren suchte. Um den Auftrag erfüllen zu können, wählte der Pferdekenner "Chonlima", eine exzellente Stute, die ohne Rast 1000 Meilen laufen konnte. Heute noch sprechen die Chinesen bei einem schnellen und ausdauernden Pferd gerne von einem "Chonlima" und nennen einen intelligenten Menschen "Bole". "Nachdem wir Italien geschlagen hatten, wussten wir, dass wir seinen Wunsch erfüllt hatten", sagt Pak. "In der Umkleidekabine heulten wir alle. Ich rannte die Treppe hinauf zu den obersten Rängen der Tribüne und hielt eine Rede an den Großen Führer. Und dann heulte ich noch mehr."
"Die Mannschaft spielte Chonlima-Fußball und war unglaublich schnell", bestätigt Gordon. So stürmten die Koreaner auch gegen ihre Viertelfinalsgegner aus Portugal an. Welle nach Welle brandeten sie gegen das portugiesische Tor. Schon nach einer Minute führten sie 1:0, kurz darauf schon 3:0. Doch dann zeigte Chonlima seine große Schwäche: Der koreanische Angriffsfußball hatte die Verteidigung sträflichst vernachlässigt. Die Portugiesen - oder richtiger ihr grandioser Superstar Eusebio - schlugen zurück. Alleine Eusebio trug vier Tore zum 5:3-Sieg Portugals bei.
Seither gab es nichts mehr vom nordkoreanischen Fußball zu berichten. Längst hat sich der südkoreanische Bruder zu einer asiatischen Fußballmacht entwickelt, dessen Kicker sogar in europäischen Ligen für Tore sorgen. Nordkorea aber hat nicht einmal an den Qualifikationsrunden zur WM 2002 in Japan und Südkorea teilgenommen - ob aus Mangel an talentierten Spielern oder aus politischen Erwägungen des neuen Großen Führers Kim Jong Il ist unklar.
"Wir haben ein paar großartige Spieler hier, und Südkorea hat einige hervorragende Spieler", träumt ein nordkoreanischer Soldat in Gordons Dokumentarfilm von möglichem Fußballruhm. "Wenn wir vereinigt wären, was für ein tolles Team hätten wir dann." Das wären Zeiten für Chonlima.
Was ist Ihre Meinung?
Kommentare einblendenDiskutieren Sie mit.