Von John McEnroe, dem ehemaligen Tennisstar, stammt das Bekenntnis: Je älter ich werde, umso besser war ich früher. Es trifft auf so manchen kritischen Intellektuellen nicht weniger zu als auf altgediente Sportprofis. Von Jubiläum zu Jubiläum neigen nicht zuletzt einstige Revolutionäre dazu, wehmütig auf die verblassenden Ideale des eigenen Sturm und Drang zurückzuschauen.
Dem Philosophen Jürgen Habermas, der am 18. Juni seinen 75. Geburtstag feiert, ist solche Nostalgie vollkommen fremd. Vielmehr sind es dessen Anhänger, die unentwegt daran erinnern wollen, wie kritisch sich der junge Habermas gegenüber jenem älteren ausnimmt, der die Idee der Revolution ad acta gelegt und seinen Frieden mit dem demokratischen Rechtsstaat geschlossen h
chlossen habe. Diese Einschätzung ist richtig und falsch zugleich.Im Jahre 1956 wird Habermas, nachdem er in Göttingen und Bonn ein eher provinzielles Philosophiestudium genossen hat, von Theodor W. Adorno an das legendäre Institut für Sozialforschung und damit in das Lehrerzimmer der so genannten Frankfurter Schule geholt. Die kapitalismuskritische Stimmung jenes Forschungsverbundes, der weit weniger an philosophischer Traditionspflege denn an empirischer Zeitdiagnostik im Anschluss an Marx und Freud interessiert war, muss elektrisierend auf den damals 27-Jährigen gewirkt haben. In kürzester Zeit arbeitet er beinahe die gesamte kapitalismuskritische Debatte auf, um im Jahre 1957 einen Literaturbericht zu Marx vorzulegen, der Konsequenzen haben wird. Bei Max Horkheimer, dem Übervater des Instituts, der es sich längst im "Grand Hotel Abgrund", wie Georg Lukács die Frankfurter Schule einmal nannte, bequem gemacht hat, läuten die Alarmglocken. Horkheimer deutet den Text als ein Bekenntnis zur Revolution, das sich nahtlos auch anderen öffentlichen Äußerungen des übereifrigen Jungtalents einpasst, in denen Habermas, abweichend von der auf Spendenbereitschaft seitens der Wirtschaft angewiesenen Institutslinie, dem Verdacht einer prinzipiellen Unvereinbarkeit von Kapitalismus und Demokratie nachspürt.Horkheimer veranlasst die Entfernung der persona non grata aus dem Institut. Adorno, der dem väterlichen Freund und Förderer ergeben ist, leistet kaum Gegenwehr, obgleich er längst das Talent des jüngeren Nachwuchsstars erkannt hat. Habermas selbst kommt seiner Entlassung zuvor und habilitiert sich in Marburg. Dennoch wird Habermas keinen Groll zurückbehalten. Als er viele Jahre später den Theodor W. Adorno-Preis erhält, wird er gefragt, ob es eine bittere Pille sei, den Preis aus der Hand des CDU-Bürgermeisters Walter Wallmann überreicht zu bekommen. "Ach was", soll Habermas geantwortet haben, "Adorno hätte ihn auch genommen!"Dass Habermas bereits im Jahre 1964 nach Frankfurt zurückkehrt, um Horkheimer auf dessen Lehrstuhl zu beerben, fügt sich als ödipaler Treppenwitz in die Geschichte des Instituts. Das erste große Werk von Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, ist da bereits erschienen. Habermas unternimmt darin den Versuch, jenen sozialgeschichtlichen Entwicklungsprozesses zu beschreiben, in dem die historisch mühsam erkämpfte Sphäre bürgerlicher Öffentlichkeit von den Zwängen kapitalistischer Verwertungsimperative zersetzt worden sei. Von der hier präsentierten Idee einer konzeptionellen Vermittlung von Theorie- und Praxisfragen wird Habermas fortan nicht mehr lassen: Seine Analysen sollen verschüttete Emanzipationspotenziale freilegen und Spielräume einer radikaldemokratischen Re-Politisierung der Öffentlichkeit erkunden, in denen sich das durch Systemzwänge korrumpierte öffentliche Leben aus sich selbst heraus erneuern könnte.Um nur die wichtigsten weiteren Stationen zu nennen: 1968 vertritt Habermas in Erkenntnis und Interesse die Überzeugung, dass sich eine ausdrücklich "kritische" Theorie von aller anderen wissenschaftlichen Forschungspraxis dadurch unterscheide, dass sie kein technisches oder praktisches, sondern ein emanzipatorisches Erkenntnisziel verfolge. Damit hat sich der Begriff des "erkenntnisleitenden Interesses" tief in die Sozialwissenschaften eingegraben. Mit der durch Selbstreflexion bewirkten Einsicht in herrschende Unterdrückung, so die programmatische Losung, muss die Bereitschaft zum Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit wachsen.Anfang der siebziger Jahre sorgt dann vor allem das schmale Bändchen Legitimationsprobleme im Spätkapitalismus für Aufsehen. Die Krisenanfälligkeit des ökonomischen Systems, so lautet die Diagnose, ist für periodisch wiederkehrende Legitimationskrisen verantwortlich, die sich zersetzend auf die Lebenswelt und deren soziale Integrationsmechanismen auswirken. Zugleich sind jedoch die herrschenden Klassengegensätze insofern befriedet, als sie sich allein noch in der Gestalt quasi naturwüchsig erscheinender Widersprüche des Systems bemerkbar machen, das heißt auf nunmehr weitgehend entpolitisierte Weise.Diese Diagnose greift Habermas wieder auf, als er, sein auf zwei voluminöse Bände angelegtes Hauptwerk Theorie des kommunikativen Handelns verfasst, das 1981 erscheint. Erzählt wird eine Geschichte der Moderne am Leitfaden der Verwirklichung, aber auch der Deformationen einer Vernunft sprachlicher Verständigung. Den kapitalistisch geformten Rationalisierungsprozess zeichnet Habermas so nach, dass erkennbar wird, wie zerstörerisch dieser Prozess auf die primär kommunikativ zusammengehaltenen Strukturen der Lebenswelt zurückschlägt. Das berühmt gewordenen Bild von einer "Kolonialisierung der Lebenswelt" meint eben dies: Das gesellschaftliche Zusammenleben verkümmert, weil es einseitig auf die Systemzwänge einer ökonomischen und bürokratischen Rationalität eingeschworen wird, wodurch die sozialintegrative Kraft lebendiger Kommunikation zunehmend ermattet.Auch wenn das Buch rasch zum sozialwissenschaftlichen Klassiker avanciert, so ereignet sich in dessen Folge doch ein werkinterner Bruch. Jene Leser, die auf eine radikalisierende aktuelle Anwendung der Kolonialisierungsthese hofften, muss die Art und Weise, wie Habermas selbst seine Theorie der Kommunikation in Richtung der so genannten Diskursethik ausbaute, enttäuscht haben. Obgleich die Diskursethik einen ganzen philosophischen Industriezweig mehr oder weniger nützlicher Folgeinterpretationen gründen half, diente sie bei Habermas nur einem einzigen Zweck: dem Nachweis, dass moralische Normen überhaupt nur dann als wahrhaft verbindlich behauptet werden dürften, wenn alle potenziell davon Betroffenen ihnen aus freien Stücken zustimmen könnten.Als sprachtheoretische Unterstellung ist diese Idee herrschaftsfreier Kommunikation schlicht genial: Wer sich auf einen Diskurs einlässt, muss notwendigerweise unterstellen, dass alle, die am Gelingen der Kommunikation interessiert sind, wechselseitig geltende Diskursregeln einzuhalten gewillt sind. Selbst die Person, die eine andere im Gespräch zu manipulieren versucht, zehrt, wenngleich parasitär, von eben dieser Unterstellung. Der Manipulationsversuch kann nur gelingen, wenn er vor dem an symmetrische Kommunikation glaubenden Gesprächspartner verborgen bleibt.Als utopische Hoffnung jedoch ist der herrschaftsfreie Diskurs so unrealistisch wie verfehlt. Habermas selbst hat wiederholt auf dieses Missverständnis hingewiesen. Als ihn die englische New Left Review fragt, ob die ideale Sprechsituation eines Tages auch das Einverständnis jener Kapitalbesitzer mit einschließen werde, die im Übergang zum Sozialismus zu enteignen wären, entgegnet Habermas: "Sie wollen mich wohl auf den Arm nehmen!" Gleichwohl ist Habermas nicht ganz unschuldig an diesem Missverständnis. Er hätte die vorfindlichen Lebensumstände einer Pathologie- und Entfremdungskritik unterziehen und dabei prüfen können, inwiefern sie seiner kommunikativen Leitidee trotzen. Stattdessen hat Habermas seine diskursethischen Prinzipien zunächst rechtstheoretisch gewendet: Mit Faktizität und Geltung aus dem Jahre 1992 hat er eine Demokratietheorie vorgelegt, die dem liberalen Mainstream der heute vor allem an Kants Moralphilosophie orientierten Gerechtigkeitsdebatte weit näher steht als jedem zeitgenössischen Versuch, an die marxistische Verdinglichungskritik der frühen Kritischen Theorie anzuknüpfen.Auf kuriose Weise spiegelt sich demnach im medial zelebrierten Übergang vom Adorno- zum Kant-Jahr nicht zuletzt auch die intellektuelle Biografie von Habermas: von der dekonstruktiv verfahrenden Kritik sozialer Pathologien (Adorno) hin zur rekonstruktiv verfahrenden Aufdeckung jener moralischen Regeln, die unserer Alltagspraxis unbewusst innewohnen (Kant).Man erzählt sich, Habermas sei allein schon daran als Verfechter der Kommunikation zu erkennen, dass er im Diskursernstfall so lange zu debattieren vermag, bis sich alle übrigen Debattenteilnehmer erschöpft zu Bett begeben. Auch so lässt sich der von Habermas beschworene "zwanglose Zwang des besseren Arguments" verstehen, dem er dann gern am nächsten Morgen mit einem über Nacht verfassten Positionspapier Nachdruck verleiht.Wirklich falsch lag Habermas nur selten. Den Vorwurf des "Linksfaschismus", den er der Studentenbewegung entgegenschleuderte, bereute er später; zwar nicht der Sache, wohl aber der entmutigenden Wortwahl wegen. Die konspirative Rolle, die er vor wenigen Jahren im Zuge des Skandals um Peter Sloterdijks "Menschenpark"-Rede gespielt hat, stand ihm, dem Theoretiker des offenen Gesprächs, nicht gut zu Gesicht.Zumeist jedoch sind die gesellschaftspolitischen Einlassungen des nach wie vor bedeutendsten Supervisors bundesrepublikanischer Verhältnisse treffend und wohl dosiert. Als ihn Gerhard Schröder im Jahre 1998 zu einer Wahlkampfveranstaltung ins Berliner Willy-Brandt-Haus lockte, machte Habermas unmissverständlich klar, dass er nicht gekommen war, um für Schröder zu trommeln: "Sie, Herr Schröder, sind mir immer noch lieber als Herr Schäuble." Nur so weit wollte er dem späteren Kanzler entgegenkommen - zu Gunsten des fälligen Regierungswechsels.Der nicht selten schlagfertige Witz seines öffentlichen Auftretens geht dem hoffnungslos akademischen Gestus des theoretischen Werks leider gänzlich ab. Hier steht Habermas vollends in der Tradition der älteren Kritischen Theorie. Er selbst nimmt das mit Humor. Als ihn einmal ein Zuhörer seiner Vorlesungen unterbricht und bittet, etwas verständlicher zu sprechen, kündigt Habermas an, er werde sich bemühen. Als sich daraufhin Unmut im Auditorium regt, beruhigt er auch die Buh-Rufer: Es werde ihm nicht gelingen.Wie kaum ein anderer Intellektueller der Bundesrepublik ist Habermas nicht nur verehrt, sondern auch angefeindet worden. Die Klassensprecher der konservativen Feuilleton-Kritik schossen sich auf ihn ein wie schon auf das ältere Kollegium der Frankfurter Schule. Insbesondere gilt dies für jene ortsansässige Tageszeitung, die sich im vergangenen Adorno-Jahr besonders bigott durch Lobpreisungen auf den lange Zeit so ungeliebten Sohn der Stadt hervorgetan hat. Dass dessen ehemaliger Assistent, Habermas, heute ausgerechnet in der FAZ seine Elogen auf das alte Europa platziert, darf getrost als ein gegenseitiger Wandel durch Annäherung verstanden werden.Es wäre jedoch verfehlt, wollte man glauben, Habermas habe mit dem spätkapitalistischen Rechtsstaat seinen Frieden gemacht. Man mag seine politischen Äußerungen in den letzten Jahren - insbesondere zur Nationalstaatsproblematik, zu Fragen militärischer Interventionen, zur Gentechnik, zur Rolle der Religionen und derzeit eben vor allem zu Europa - als linksliberal abtun. Sein radikaldemokratisches Denken besitzt jedoch noch immer mehr moralische Sprengkraft als jedes sozialdemokratische Gesäusel vom Dritten Weg.Und dennoch: Das Element der Pathologiediagnose, um die es der frühen Kritischen Theorie und auch dem jungen Habermas ging, sucht man in dessen neueren Arbeiten vergebens. Angesichts der gegenwärtigen Tendenz zu einem völligen Verzicht der Sozialwissenschaften auf jede Form von Theorie, die auf Befreiung zielte, muss es für die nachwachsende Generation intellektueller Gesellschaftskritik ein zentrales Anliegen sein, den kapitalismuskritischen Habermas wiederzuentdecken und zu entstauben. Die Diagnose einer "Kolonialisierung der Lebenswelt" war nie zutreffender als heute, wo der mühsam errungene Wohlfahrtsstaat dem Totalitätsanspruch eines real existierenden Vulgärkapitalismus geopfert wird.Gleichwohl wird man dem Jubilar mit derart nostalgisch anmutenden Mahnungen kaum das verdiente Geburtstagsfest verderben. Er wird vermutlich bis spät in die Nacht diskutieren. Und am nächsten Morgen ein schlagkräftiges Positionspapier präsentieren.Arnd Pollmann ist Philosoph und Politikwisenschaftler. Er arbeitet am Menschenrechts-Zentrum der Universität Potsdam.
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