In der aktuell mutierenden Krise standen die Naturwissenschaften lange so hoch im Kurs wie die Aktien des Onlinehandels. Doch mit den plötzlich korrigierten Inzidenzvorgaben und trotz baldiger Öffnung der Friseurläden scheint der Stern von Virologie und Epidemiologie zu sinken. Es häufen sich Warnungen vor einer undemokratischen„Expertokratie“, und der Trainer des FC Bayern mault stellvertretend für viele, langsam könne er „sogenannte Experten“ nun „nicht mehr hören“. Immer lauter wird die Frage, wie viel oder wenig die gefeierten Wissenschaften zur Überwindung der Not beitragen oder ob sie nicht selbst schon ein Teil des Problems sind. Dieser Frust ist nicht nur ein Kollateralschaden des periodisch verlängerten Lockdowns. Das Problem liegt tiefer: Inwiefern ist eine genuin gesellschaftliche Krise mit den Bordmitteln der Naturwissenschaften zu überwinden?
Neutral gibt es nicht
Fast vergessen ist heute der in den 1960er Jahren erbittert tobende „Positivismusstreit“ in den Sozialwissenschaften: Kann naturwissenschaftliche Methodik auch soziale Zusammenhänge erfassen? Der Kritische Rationalismus um Karl Popper plädierte für eine faktenbasierte, „wertneutrale“ Sozialwissenschaft, die auch das soziale Miteinander quasinaturkundlich als Ansammlung von Tatsachen analysieren und von moralischen Urteilen absehen solle. Die Frankfurter Schule um Theodor W. Adorno und den jungen Jürgen Habermas betonte hingegen die Eigenlogik der sozialen Welt gegenüber der natürlichen, die Unzulänglichkeit naturwissenschaftlicher Methodik sowie die Notwendigkeit, sich als kritische Theorie der Gesellschaft gegenüber wertend zu positionieren.
Aus diesen Diskussionen ging ein einst viel gelesenes Büchlein von Jürgen Habermas hervor: Technik und Wissenschaft als „Ideologie“. Es wirft die Frage auf, ob die Naturwissenschaften nicht grundsätzlich das falsche „erkenntnisleitende Interesse“ zur Bewältigung sozialer Krisen mitbringen. Jede „kritische“ Wissenschaft sei parteiisch und wertbehaftet. Sie müsse Machtverhältnisse als gerade nicht „natürlich“ aufdecken, sondern als menschengemacht und veränderlich. Kritische Wissenschaft folgt dem erkenntnisleitenden Interesse der „Emanzipation“.
Der Unterschied zu den Naturwissenschaften liegt gerade nicht darin, dass diese frei von parteiischen Interessen wären. Im Gegenteil ist der Glaube, nur wertfreie Fakten zu sammeln, ein häufiges Selbstmissverständnis der Naturwissenschaften. Nach Habermas folgen auch diese einem erkenntnisleitenden Interesse, nämlich demjenigen an der „Beherrschbarkeit der Natur“. Die Naturwissenschaften sollen den Menschen von der bedrohlichen Übermacht der Natur befreien und diese der menschlichen Herrschaft unterwerfen.
Doch belässt es die Naturwissenschaft nicht bei der Beherrschung der äußeren Natur. Ihr Siegeszug führt vielmehr dazu, dass auch soziale Zusammenhänge zunehmend als „Objekte“ der Forschung betrachtet werden, die es analytisch zu berechnen und technologisch zu beherrschen gilt. Das Muster der Naturbeherrschung („Wissen ist Macht“) wird auf die Beherrschung von Menschen übertragen.
Habermas hatte damals vor allem die Atomphysik vor Augen. Heute wäre auch an die KI-Forschung oder die Gentechnik zu denken, die ganz neuen Formen technologisch-wissenschaftlicher Herrschaft den Weg ebnen. Problematisch ist diese Verstrickung von Wissenschaft in Herrschaft vor allem dann, wenn sie nicht erkannt, ja verschleiert wird, indem die Forschung ihre vermeintliche Neutralität als Monstranz vor sich herträgt. So wird aus Wissenschaft „Ideologie“: ein Herrschaftsinstrument, das sich in unbewusster Komplizenschaft von der politischen Macht vereinnahmen lässt.
Spätestens jetzt sind wir zurück in der Gegenwart. Wenn Virologie und Epidemiologie behaupten, bloß Fakten zu liefern, erhalten sie einen schönen Schein aufrecht, der blind für ihre Verstrickung in Herrschaftsregime macht. Diese Verstrickung ergibt sich nicht erst durch die neue Nähe von Wissenschaftsprominenz und politischen Schaltzentralen, sondern „a priori“: Die individuelle Forscherperson ist mit ihrem erkenntnisleitenden Interesse an Naturbeherrschung unvermeidlich Agentin dieser Herrschaft und kann sich deshalb nicht von dieser ausnehmen. Dem kommt entgegen, dass derzeit viele politische Verantwortliche sowie große Teile der Medienöffentlichkeit eine „szientistisch“ verkürzte Wissenschaftsgläubigkeit an den Tag legen. Nur der Traum von einer Berechenbarkeit der Welt nach dem Vorbild „harter“ Naturwissenschaften kann erklären, warum man derzeit so oft und ehrfurchtsvoll davon hört, dass „Merkel eine Physikerin“ ist.
Die Politik ist überfordert
Man kann das Virus rein als naturwissenschaftliches Problem betrachten. Allerdings wäre das bereits mit Blick auf die sozialen Übertragungswege naiv. Und was wissen Naturwissenschaften über die Nöte des Homeschooling, über den Alltag in Pflegeheimen, über drohende Insolvenz, Suizidgefahren, Arbeitslosigkeit oder Obdachlosigkeit? Hier sind andere Disziplinen gefragt, etwa die frühkindliche Pädagogik, die Soziologie, Psychologie oder Sozialarbeitswissenschaft. Die aber werden noch immer kaum gehört, weil ihre Kritik dem szientistischen Mainstream als „unwissenschaftlich“ gilt. Der Wissenschaftsjournalist Ranga Yogeshwar behauptete jüngst: „Virologen haben keine Meinung, die haben Fakten.“ Tatsächlich aber haben auch die Naturwissenschaften keine „Fakten“. Sie mögen Tonnen an Daten sammeln, kommen aber auch nur zu Theorien über jene Fakten, die mit anderen Theorien konkurrieren. Es wirkt sympathisch, wenn naturwissenschaftliches Spitzenpersonal bisweilen im Clinch liegt oder sich als „fallibilistisch“ im Sinne Poppers gibt. Selten aber geht die Selbstkritik bis zum Eingeständnis ihrer herrschaftssichernden Rolle.
Traditionell sollen die Wissenschaften von der Angst vor Naturgewalten befreien. Nun aber kommen heftige Panikimpulse direkt aus diesen Disziplinen. Das ist nicht unbeabsichtigt: Angst ist aus epidemiologischen oder auch ökologischen Gründen nützlich, wenn harte Maßnahmen durchzusetzen sind. Bekannt ist inzwischen, dass das Innenministerium im März 2020 bei namhaften Wissenschaftsinstitutionen ein Papier mit „Schockwirkung“ bestellte – und bekam. Sogleich verkündete die Kanzlerin, es würden sich 60 bis 70 Prozent der Bevölkerung anstecken. Christian Drosten malte noch unlängst täglich 100.000 Infizierte an die Wand.
Wie sehr den gefeierten Disziplinen die politische Umarmung schmeichelt, zeigt sich, wo sie sich an die Regierung regelrecht heranschmeißen. Etwa bei der Deutschen Akademie der Naturforscher Leopoldina oder beim Ethikrat, der zuletzt, wie von der Regierung bestellt, „Sonderrechte“ für Geimpfte ablehnte. Zwar hört man aus den Expertenkreisen jetzt immer öfter, dass am Ende immer die Politik entscheide. Was aber, wenn diese überfordert, ja hörig ist? Niemand kann bezweifeln, dass die Politik sich Rat holen und die Wissenschaft diesen auch geben sollte. Doch mahnt der Schmusekurs von Regierung und Wissenschaft zur Vorsicht. Die Politik will Zeit gewinnen und unpopuläre Entscheidungen als alternativlos markieren. Da sollte sich Wissenschaft nicht zum Zwecke der ideologischen Akzeptanzbeschaffung funktionalisieren lassen.
Schon Habermas prognostizierte eine expertokratische „Verwissenschaftlichung der Politik“, die eine „Entpolitisierung der Masse“ bewirke. Die Demokratie schlittert in eine Routine institutionalisierter Kompetenzüberschreitung, wenn Politik und Beratung am Parlament vorbei per Notverordnung regieren. In parlamentarischen Verfahren stecken immer grundlegende Wertentscheidungen, die laut Habermas stets an das wertbehaftete Selbstverständnis der Bevölkerung zurückzubinden sind. Nehmen wir die schwerwiegende Frage nach der Impfreihenfolge: Wurde diese vor ihrer Festlegung ernsthaft diskutiert?
An die Stelle demokratischer Deliberation der politischen Frage, wie wir gemeinsam leben oder auch sterben wollen, darf nicht länger die Unterwerfung der Exekutive unter das szientistische Diktat weniger, machtpolitisch unreflektierter Naturwissenschaften treten. Umgekehrt sollten sich die gefeierten Disziplinen wieder etwas Abstand zur Macht gönnen – auch um den kritischen Wissenschaften etwas Platz zu machen, die derzeit „gesilenced“ werden. Oder will man die Kritik weiter der Querdenkerei überlassen? Es geht bei Corona nicht nur um „Naturforschung“, sondern um das Zusammenleben. Auch in dieser Hinsicht wäre es ermutigend, wenn sich die derzeit gehypten Wissenschaften als lernfähig erweisen würden.
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