Vorteilsnahme

Spritzensport I Doping ist unmoralisch, weil es den imperfekten Menschen ausstreicht

Sportler dopen, weil alle anderen auch dopen, um mithalten zu können. "Die Tour gewinnt man nicht mit Zuckerwasser", hat Didi Thurau schon vor 30 Jahren gesagt. Laut einer Schweizer Studie würden knapp 30 Prozent aller Hobby-Sportler zum Doping greifen, wenn dies weder rechtliche noch gesundheitliche Konsequenzen hätte. Warum sollte man es lassen? Eben weil es verboten ist, weil man erwischt werden könnte und wegen der Nebenwirkungen - so jedenfalls lauteten die Antworten der reuigen Sünder. Dies sind Gründe, aber wahrlich keine guten. Denn nicht das Doping-Verbot wird hier gerechtfertigt, sondern allein der eigene Verzicht - aus Selbstschutz. Überhaupt ist in den vergangenen Wochen kaum einmal ernsthaft über die ethisch-moralische Dimension des Dopings diskutiert worden - als seien die Argumente sowie die Grenzen zwischen erlaubten und nicht-erlaubten Leistungssteigerungen völlig klar. Aber ist dem so? Warum gilt ein Wettbewerbsvorteil durch ein technisch verbessertes Sportgerät als unproblematisch, nicht aber ein Vorsprung, der pharmakologisch erzeugt wird? Warum ist es Sportlern erlaubt, den Körper künstlich mit Kaffee und Traubenzucker zu versorgen, nicht aber mit einer Eigenbluttransfusion?

Der Verdacht liegt nahe, dass der Widerwille gegen eine tiefer schürfende Betrachtung des Doping-Problems nicht etwa auf eine eindeutige Ablehnung unerlaubter Leistungssteigerung zurückzuführen ist, sondern auf deren Gegenteil: Große Teile des Publikums und der Medienöffentlichkeit haben sich längst mit der Dopingrealität arrangiert. Die Verweigerung einer Kriminalisierung aller Verantwortlichen beruht letztlich auf einer doppelten Verdrängung in eigener Sache: Zum einen will man nicht wahrhaben, dass mancher Sport ganz ohne Doping zukünftig nur halb so spannend sein dürfte. Zum anderen muss man sich über die eigene Komplizenschaft - als Funktionär, Sponsor, Journalist, Sportpolitiker und eben auch als Zuschauer - hinwegtäuschen. Gerade deshalb ist es angebracht, noch einmal an die wichtigsten Argumente gegen das Doping zu erinnern.

Wer wissen will, warum Doping schädliche Nebenwirkungen für die Moral hat, kann den philosophischen Apotheker Kant fragen. Nach dessen Kategorischem Imperativ müsste es heißen: Die Maxime "Ich dope, um mir einen Vorteil zu verschaffen" würde sich, wenn man sie zu einem allgemeinen Gesetz machte, selbst zerstören. Wenn jeder dopt, um sich einen Vorteil zu verschaffen, dann neutralisiert sich dieser Vorteil, und Doping wird schlicht sinnlos. Denn ein Vorteil, den alle haben, ist kein Vorteil mehr. Daher ist Doping "unvernünftig", wie Kant sagen würde, und eben deshalb unmoralisch. So einfach ist das.

Doch vermag Kant unser Unbehagen nur zum Teil zu erklären. Zunächst sind Gründe anzufügen, die das Doping als "unsportlich" deklarieren, und zwar schon deshalb, weil sich der Dopingsünder einen ungerechtfertigten Wettbewerbsvorteil verschafft. Der entscheidende Punkt ist: Der gedopte Sportler ist ein Trittbrettfahrer, ja, ein Parasit, denn sein Erfolg zehrt vom Misserfolg jener, die nicht dopen wollen. Sonst nämlich hätte er keinen Erfolg. Darüber hinaus macht sich die Unsportlichkeit vor allem daran fest, dass ein Regelverstoß begangen wird, und zwar ein fundamentaler. Ein Foul beim Fußball ist ebenfalls ein Regelverstoß, doch dieser Verstoß ist im Reglement vorgesehen: Es gibt eine entsprechende Regel, die das Foul sanktioniert - und dann kann das Spiel weitergehen. Doping hingegen bewegt sich außerhalb des Reglements und foult damit das Regelwerk als Ganzes, stellt also den Sport insgesamt in Frage.

Wer hingegen Doping als spezifisch "unmoralisch" einstuft, hat weniger den Schaden für den Sport als vielmehr den Schaden, den man anderen Sportlern zufügt, vor Augen. Abgesehen von dem Betrug und dem Nachsehen, das der nicht-gedopte Sportler hat, kommt es vor allem auf den schmutzigen Sog an, in den auch der "saubere" Sportler gerät, wenn er den Anschluss nicht verlieren will. Es ist wie bei einem Konzertbesuch: Sobald in der ersten Reihe einer aufsteht, müssen alle anderen hinter ihm auch aufstehen. Schon ein einziger dopender Spritzensportler kann ausreichen, um die Integrität aller zu korrumpieren und das gesamte Teilnehmerfeld auf einen rutschigen Abhang, einen slippery slope, zu führen: Entweder man rutscht mit oder man bleibt in der Kabine. So wird der unmoralische Betrug zur akzeptierten Regel.

Man kann Doping zudem als "unethisch" geißeln. Dann steht weniger der Schaden anderer als vielmehr der Schaden, den sich der Dopingsünder selbst zufügt, zur Debatte. Dieser begibt sich auf einen ungewissen Weg schleichender Selbstzerstörung. Er begeht "partiellen Selbstmord", wie Kant gesagt hätte. Zudem werden massive Selbsttäuschungsmanöver notwendig: sowohl in Bezug auf die Qualität der eigenen sportlichen Leistungen, die ja nicht wirklich mehr die eigenen sind, als auch hinsichtlich des Körpers, dessen natürliche Alarmsignale "überhört" werden müssen. Auch insofern kommt der durch Doping bewirkte Leistungsgrenzübertritt einer - mehr oder weniger freiwilligen - Selbstverstümmelung gleich.

So weit die gängigen Argumente, denen jedoch wichtige weitere, bislang zu wenig beachtete Ablehnungsgründe hinzufügen sind: "Unsportlich" ist das Doping vor allem deshalb, weil es gegen den Geist, ja, das Wesen des Sports als einem letztlich unverfügbaren Geschehen verstößt. Hier sei an den Philosophen Sepp Herberger erinnert, der auf die Frage, warum die Menschen ins Stadion gehen, geantwortet hat: "Weil sie nicht wissen, wie es ausgeht." Das ist nicht etwa ein Nachteil des Sports, sondern dessen eigentliches Faszinosum: Der Zuschauer will an einem Ereignis partizipieren, dessen Ausgang ungewiss ist. Der Sport lebt davon, dass immer auch der Außenseiter gewinnen kann. Und der Sport wird diesen mitreißenden Aspekt der Unvorhersehbarkeit nur so lange beibehalten, wie Sportler keine vollgedopten Monster sind, deren Funktionsabläufe gänzlich berechenbar und routiniert sind. Die Favoriten müssen weiterhin scheitern können, damit der Sport Spaß macht.

Häufig übersehen wird auch, dass menschliche Leistungen, zumal sportliche, überhaupt nur dann schätzenswert sind, wenn sie auf annähernd natürliche Weise zustande kommen und zudem das Ergebnis einer echten Anstrengung sind. Ersteres, die geforderte Natürlichkeit der Leistung, reicht für Wertschätzung schon nicht aus. Man nehme einen Basketballspieler, der 2,30 Meter groß ist und den Ball direkt in den Korb drücken kann. Das ist toll, aber keine Leistung, auf die man stolz sein könnte. Anders der Spieler von 1,70 Meter, der übt und übt, bis auch er - im Sprung - an den Korbrand kommt. Würde er hingegen Wachstumshormone schlucken oder verlängernde Beinimplantate tragen, wäre es mit der Bewunderung der Zuschauer vorbei. Das wäre unsportlich.

"Unmoralisch" ist Doping hingegen vor allem deshalb, weil es zu einer schleichenden Dehumanisierung des Zwischenmenschlichen beiträgt. Der Dopingsünder passt sich in eine kulturell auffällig gewordene Zunahme von massivem life styling ein: einer gezielten, medizinisch-technischen Modifikation des menschlichen Körpers, der heute überall, nicht nur im Sport, an seine natürlichen Grenzen stößt. "No Body is Perfect" lautet das Credo der Stunde, dem durch pharmakologische Stimmungsaufheller, maßlose Schönheitsoperation, exzessiven Körperschmuck und eben auch durch Doping entgegengewirkt wird. Was daran unmoralisch ist? Der Mensch wird zunehmend nicht mehr als das wahrgenommen, was er ist: ein verletzliches, imperfektes Wesen. Er wird zum manipulierbaren, biochemisch und bald auch genetisch optimierten Objekt.

So auch wird verständlich, warum Doping in besonderem Maße als "unethisch" eingestuft werden muss - weil nämlich der derzeitige Umbau des menschlichen Körpers eine unheilvolle Dialektik der Selbstvervollkommnung exekutiert: Das menschliche Streben nach Perfektion artet mehr und mehr in Selbstzerstörung aus. Einst stand die medizinisch-technische Verbesserung der Conditio humana im Dienste der Emanzipation des Menschen von den Zwängen einer übermächtigen Natur. Doch längst schon ist der utopische Angriffspunkt solcher Praktiken nicht mehr der großformatige Körper der Gesellschaft, sondern der gestählte body einzelner: Vom Sonnenstaat zum Astralkörper, lautet die Devise. Und der Humanismus schlägt in Anti-Humanismus um.

Welche Schlüsse wären daraus zu ziehen? Vor allem dieser: Jede Art von unmenschlicher Komplizenschaft mit den für das Doping Verantwortlichen ist aufzukündigen. Dies gilt für Sportler, Funktionäre, Sponsoren, Politiker und Journalisten ebenso wie für jeden einzelnen unter Selbsttäuschungen leidenden Sport-Fan. So ist das eigentliche sportpolitische Skandalon der letzten Wochen nicht etwa die Kettenbeichte deutscher Radsportler, sondern das Ende der Unschuld: Man wird nicht länger hinschauen und zugleich vom Doping wegsehen können. Wer jetzt noch immer meint, einen moralisch und ethisch korrumpierten Sport genießen zu können, sitzt mit dem Anti-Humanismus in einem Boot.

Dr. Arnd Pollmann lehrt und forscht am Institut für Philosophie der Universität Magdeburg. Zuletzt gab er den Sammelband no body is perfect. Baumaßnahmen am menschlichen Körper heraus (mit Johann S. Ach), Transcript, Bielefeld 2006.


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