Was kümmert das Geschwätz von gestern

Ghostwriter Es ist erstaunlich, wie schnell die gehässige Feindseligkeit mancher Parteien in Koalitionsgespräche mündet. Überlegungen zu Politik und Integrität

Im Jahre 1532 hat ein früher spin doctor der professionellen Politikerzunft Folgendes ins Stammbuch geschrieben: "Ein kluger Fürst kann und darf daher sein Wort nicht halten, wenn dessen Erfüllung sich gegen ihn selbst kehren würde, und wenn die Ursachen aufhören, die ihn bewogen haben, es zu geben. Ich wage zu behaupten, daß es sehr nachteilig ist, stets redlich zu sein: aber fromm, treu, menschlich, gottesfürchtig, redlich zu scheinen, ist sehr nützlich."

In den vier Wochen, die seit der Bundestagswahl verstrichen sind, konnte man sich des Eindrucks kaum erwehren, dass die an den interfraktionellen Sondierungsgesprächen Beteiligten die Lektion Machiavellis gelernt haben. In atemberaubendem Tempo wurden vormals für unumstößlich gehaltene Überzeugungen verworfen, lösten sich verhärtete, ja, verfeindete Fronten auf. Was gestern noch unmöglich erschien - die schwarz-gelb-grüne und zuletzt die große Koalition -, galt plötzlich als des Landes letzte Hoffnung. Stellvertretend für diesen abrupten Stimmungswechsel stand ein Maulheld im roten Pullover, der eben noch vehement hatte ausschließen wollen, dass es die SPD je über das links schlagende Herz bringen würde, eine Kanzlerin Merkel zu wählen. Unmittelbar nach Schröders ersten Rückzugsäußerungen jedoch beeilte sich Ludwig Stiegler mit dem Bekenntnis: "Der König ist weg. Ich kämpfe nicht mehr für den König. Sie ist jetzt auch meine Bundeskanzlerin".

Zwar haben sich die Großkoalitionäre Zeit gelassen, vielleicht um zu demonstrieren, wie schwer es einem in der Politik fallen kann, standhaft an den eigenen Überzeugungen festzuhalten, wenn die gewünschten Mehrheiten fehlen. Dennoch bleibt jetzt, wo die Akteure längst offen nach dem Motto agieren: "Was kümmert mich mein Geschwätz von gestern?", weit mehr als nur ein dem Willen zur Macht geschuldetes Geschmäckle zurück. Und so wird man sich fragen müssen, ob die Verantwortlichen tatsächlich jenen machiavellistischen Grundgedanken verstanden haben, demzufolge der Politiker zwar keineswegs integer zu sein, aber trotzdem integer zu wirken hat.

Äußere und innere Integrität müssen keineswegs übereinstimmen. Oft ist von außen schwer zu entscheiden, ob sich fundamentale Meinungsrevisionen einer bloß wetterwendischen Kosten-Nutzen-Rechnung verdanken oder ob sie auf besseren Gründen beruhen. Man nehme das Beispiel des Ex-Kanzlers. Vielleicht war es tatsächlich so, wie mancher Genosse es gerne glauben möchte: Schröder sah in den Neuwahlen die einzige und letzte Chance zur Rettung seiner Reformpolitik. Er wollte klare Verhältnisse. Oder ist es am Ende ganz anders gewesen? Hatte die rot-grüne Regierungsarbeit den Kanzler nicht längst zermürbt und müde gemacht? Wollte Schröder schlicht nicht mehr? Dann aber galt es, diese Müdigkeit tunlichst zu verbergen und einen guten Abgang hinzulegen.

Welche dieser beiden Geschichten ist die richtige? Die erste Version würde erklären, wie es zu Schröders legendärem Gepoltere am Wahlabend kam. Die zweite machte verständlich, wie es ihm am Ende gelang, vergleichsweise galant den Weg frei für die große Koalition zu machen. Hat Schröder denn nun aufrecht für die Fortsetzung seiner Kanzlerschaft gestritten oder sind seine Wähler schlicht von ihm getäuscht worden? Kurz: Wie ist es um die politische Integrität des Ex-Kanzlers, aber auch um die seiner Kollegen bestellt?

Man nennt eine Person "integer", wenn das, was sie sagt und tut, aufrichtig wirkt, wenn sie Unbestechlichkeit demonstriert, Charakter und feste Überzeugungen aufweist, von denen sie sich nicht vorschnell abbringen lässt. Eine Person, die Integrität erkennen lässt, "steht" zu dem, was sie tut und sagt. Und sie tut und sagt, was sie meint. Verriete sie ihre Grundüberzeugungen, dann wäre sie nicht länger das, was sie zu sein wünscht und was wir in ihr sehen wollen. Integrität spricht man denjenigen zu, für die ein Satz gilt, den sich auch der Kanzler - ob zu Recht oder zu Unrecht - des Öfteren zu eigen gemacht hat: "Ich weiß, wo ich herkomme. Und ich weiß, wo ich hingehöre." Und das heißt auch: Der integer wirkende Mensch kümmert sich tatsächlich um sein Geschwätz von gestern.

Nach den wechselseitigen Anfeindungen und Beleidigungen, die die beiden großen Parteien noch kurz vor der Wahl ausgetauscht haben, muss deren machtfixierte Annäherung danach auf viele Beobachter alles andere als integer gewirkt haben. Es ist kaum vorstellbar, dass eine tiefsitzende, gehässige Feindseligkeit derart rasch in vernünftige Koalitionsgespräche zu verwandeln ist. Aus Sicht eines machiavellistischen Politfürsten mag es konsequent sein, von früheren Festlegungen abzurücken und Kooperationsbereitschaft zu simulieren. Doch irgendwie abstoßend wirkte diese individuelle Flexibilität bisweilen schon.

Man kann in der Politik, wie im echten Leben, zwischen unterschiedlichen Härtegraden mangelnder Integrität unterscheiden; je nach dem, ob man es mit bestechlichen, korrupten oder heuchlerischen Personen zu tun hat. Ein Mensch ist bestechlich, wenn er zwar eigene Überzeugungen mitbringt, sich aber aus Opportunitätserwägungen gelegentlich zu Ausnahmen hinreißen lässt. Dieselbe Person ist korrupt, wenn solche Ausnahmen zur Regel werden. Korrupte Menschen haben ihre Wertbindungen derart gelockert, dass sie sich um deren Realisierung kaum mehr scheren. Bei Vorlage eines geeigneten Angebots lassen sie sich rasch ganz von ihrem Schlingerkurs abbringen.

Demgegenüber wirkt ein Mensch heuchlerisch, wenn er ersichtlich nur vorgibt, feste Überzeugungen zu besitzen, stattdessen aber sein Fähnchen in jeden neuen Wind hängt. Während der integre Mensch daran interessiert ist, nach seinen eigenen Wertmaßstäben zu leben, geht es dem Heuchler eher darum, dass andere glauben, er lebte nach den ihren. Die integre Person handelt aus eigener tiefer Überzeugung, die heuchlerische aus der Selbstgefälligkeit heraus, als ein guter Mensch dastehen zu wollen. Dazwischen liegt der schmale Grat, auf dem Politiker wandeln.

Oft wird unter Aufbringung von zum Teil enormen Energien am Ende eben nur der Schein, ja, die Illusion von charakterlicher Kohärenz und Integrität aufrecht erhalten. Die Autorschaft der eigenen Lebensgeschichte wird an eine Art Ghostwriter in eigener Sache delegiert, der den Lebenstext bis hin zur Selbsttäuschung umschreibt. Der Psychiater Ronald D. Laing berichtete einst von einem Patienten, der auf die Frage, ob er Napoleon sei, wahrheitsgemäß mit "Nein" antwortete. Der angeschlossene Lügendetektor jedoch schlug aus.

Dies hat freilich nicht zu bedeuten, dass integre Mensche sich und ihre Überzeugungen niemals ändern dürfen. Sie haben sich tatsächlich revisionsoffen zu halten für den Fall, dass eines Tages wahrhaft gute Gründe sie dazu bewegen mögen, ihre bisherigen Gewissheiten zu verwerfen. Wer sich niemals irritieren lässt, wird niemals einen Irrtum einsehen können. Daher muss Integrität von Formen überzogener Unbeugsamkeit abgegrenzt werden, die einem Charakter aus Sicht anderer auf Dauer abträglich sind. Wer päpstlich und kompromisslos an überkommenen Aspekten seines Selbstbildes festhält, obgleich er spürt, dass sich diese schon längst nicht mehr aufrecht erhalten lassen, büßt an Integrität ein.

Demnach ist die Forderung, ein integrer Mensch dürfe überhaupt gar keine Kompromisse eingehen, verfehlt. Allerdings sollte dies nicht zu dem nahezu postmodernen Credo des Barden Biermann verleiten: "Nur wer sich ändert, bleibt sich treu." Eine Person, die unaufhörlich ihr Selbstbild übertünchte, würde bald schon jegliche Konturen vermissen lassen. Es bedarf also, wie so oft im Leben, eines goldenen Mittelweges, der Kompromisse zulässt, ohne in Charakterlosigkeit zu verfallen, der aber gleichwohl Konsequenz aufweist, ohne in Dogmatismus umzuschlagen.

Außer Frage steht jedoch, dass die Kompromissbereitschaft integrer Personen an Grenzen stößt. Entscheidungen und Zwischenlösungen, in denen sich die ursprünglichen Überzeugungen nicht mehr wiedererkennen lassen, wie das im Rahmen einer großen Koalition der Fall sein kann, scheiden aus. Wo aber genau diese Grenzen zwischen vertretbaren Konzessionen und selbstschädigender Inkonsequenz verlaufen, ist schwer zu bestimmen. Nur zu oft stellt sich erst im Nachhinein heraus, dass ein Kompromiss, der seinerzeit geboten schien, zu einem feinen Riss in der Außenhaut des Charakters geführt hat, in dessen Folge die in Frage stehenden Wertvorstellungen am Ende ganz abhanden kamen.

In der Politik dürfte dies wahrlich keine Seltenheit sein. Mit Machiavelli lässt sich fragen, ob das politische Tagesgeschäft überhaupt mit Integrität vereinbar ist. Die Antwort lautet: nein und ja. Zwar wird in vielen Fällen ein innerer Integritätsverlust geradezu geboten sein. Politiker müssen lediglich gute Integritätsdarsteller, sie müssen nicht schon selbst integer sein. Eben das kann man bei Machiavelli nachlesen. Dass der Wähler ein Bedürfnis nach Integrität an die Politik heranträgt, ist verständlich, aber naiv. Das politische Spiel lebt von einem Schleier der Standhaftigkeit, hinter dem nur allzu oft ein letztlich charakterloses Treiben angezeigt ist. Wenn jemand einmal wirklich sein Ehrenwort hält, wie einst Helmut Kohl, dann wird er seine Wähler vermutlich sogar verprellen. Die Politik ist nicht der rechte Ort für wahrhaft integre Personen. Selbstredend würde man sich mehr Politikerinnen und Politiker von Format wünschen, und hier und dort gibt es ja auch welche, doch auf Dauer müssen diese, wie es bei Machiavelli heißt, "unter einem Haufen, der sich daran nicht kehrt, zugrunde gehen."

Eben deshalb birgt der dieser Tage nach außen deutlich sichtbar werdende politische Wankelmut eine beinahe tragisch zu nennende Gefahr: Das uneindeutige Wahlergebnis, das vermutlich auch Ausdruck von Politikerverdrossenheit ist, zwingt die verantwortlichen Akteure zu schwindlerischen Meinungsverschiebungen, die eben jene Verdrossenheit nur noch bekräftigen werden. In dieser Hinsicht ist es vielleicht bezeichnend, dass gegen den Namensgeber jener Reform, die von der großen Koalition nunmehr mit vereinten Kräften vorangetrieben werden soll, unlängst ein Strafverfahren wegen Vergehen eingeleitet worden ist, die zweifellos unter die oben aufgelisteten Integritätsdefizite fallen.

Die politisch entscheidende Frage ist derzeit also weniger, ob die neuen Regierungsmitglieder tatsächlich integer sind, sondern ob sie als gute Integritätsdarsteller taugen. Von den beiden derzeit hauptverantwortlichen Personen wird die eine als Kanzlerin beweisen müssen, ob die vermeintliche Stärke, die man ihr andichtet, auf ein integres Rückgrat oder aber auf ein charakterliches Stützkorsett zurückgeht. Ihr Vizekanzler wird in seinem neuen Job als Arbeitsminister demonstrieren müssen, wie ernst es ihm etwa mit seiner damalige Heuschrecken-Kritik ist.

Und Gerhard Schröder? Vielleicht ist ja an beiden der zu Beginn erzählten Geschichten etwas dran. Dass man in dramatischen Momenten des Lebens mitunter innerlich zerrissen sein kann, ist mehr als verständlich. Nicht schon deshalb büßt man seine Integrität ein. Man hört erst dann auf, als ein integrer Mensch zu wirken, wenn man mit den Widersprüchen des Lebens nicht so umzugehen weiß, dass sich dabei gleichwohl ein roter Faden, eine gewisse biographische Konsequenz erkennen lässt. Die Integrität einer Person muss sich vielmehr gerade angesichts solcher Widerstände erweisen. Sie ist keine Umgehungsstraße, die um sämtliche Konflikte herumführt, sondern die Kraft, den Widrigkeiten des Lebens ohne charakterliche Verluste zu trotzen.

Manchmal wird sich diese Kraft eben allein in einem geordneten Rückzug entfalten können. Vielleicht hat der Kanzler an dem Tag, an dem er sichtlich gerührt seinen Rückzug ankündigte, endlich jene ruhige Hand bewiesen, die er uns in seiner ersten Amtszeit versprochen hatte.

Arnd Pollmann ist Philosoph am MenschenRechtsZentrum der Universität Potsdam und Autor des Buches Integrität. Aufnahme einer sozialphilosophischen Personalie, das in diesem Jahr im transcript-Verlag erschienen ist.


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