Sie sollte eine Bewegung werden, die SPD, Grüne und die Linke außerparlamentarisch unter Druck setzt: die Sammlungsbewegung Aufstehen, initiiert von Sahra Wagenknecht. Deren Amtszeit als Vorsitzende der Linksfraktion endete am Dienstag. Was aber wird aus Aufstehen? Der Berliner Psychoanalytiker Arnim H. Krüger war bei der Gründung dabei – und resümiert für sich, warum er nicht mehr an Aufstehen als Bewegung glauben kann. Es liegt an der Debattenkultur, an der Vereinsstruktur. Es liegt an der Angst vor einer Bewegung.
Ich bin es leid, immer wieder nur lamentierend zu konstatieren, welche „Erfolge“ der neoliberale Elitenkapitalismus wieder gegen uns errungen hat. Mich regt weniger das Erstarken der AfD auf, als mehr die eklatante Schwäche und Spaltung der Linken, die nun schon über 100 Jahre währt. Die Partei Die Linke etabliert sich als parteipolitische Elite. Einmal in der „Regierungsverantwortung“ in einem Bundesland, macht sie jeden Scheiß mit, den der Turbokapitalismus vorgibt (so wurden im Land Brandenburg wegen des ungebremsten Braunkohleabbaus weiter Landschaftszerstörung und Vertreibung der Bewohner betrieben). Die SPD ist seit Gerhard Schröder und der Agenda 2010 zum Vorreiter neoliberaler Ungerechtigkeit geworden. Bei Bündnis 90/Die Grünen kann man die „Restlinken“ mit der Lupe suchen. Die Partei ist in der Bürgerlichkeit angekommen und kann aus dieser bequemen Perspektive heraus nichts weniger fordern als die ökologische (Er-) Rettung der Welt.
Da ertönt aus Berlin der Aufruf zu(m) „Aufstehen“. Sahra Wagenknecht initiiert mit einigen Getreuen und UnterstützerInnen eine linke Sammlungsbewegung. Ich bin dabei. Ich werde Gründungsmitglied von Aufstehen in meinem Landkreis. Vergessen (?) sind meine Ressentiments gegenüber der Partei Die Linke. Hatte mich doch die Vorgängerpartei SED einst 1984 wegen „bürgerlich pazifistischer Grundhaltung“ ausgeschlossen, was damals gleichzeitig mit einem dreijährigen Berufsverbot in der DDR einherging. Auf dieser Gründungsveranstaltung sind nun etwa 60 Prozent der TeilnehmerInnen von der Linkspartei; ein ehemaliges SPD-Mitglied, der gerade aus seiner Partei ausgetreten ist; der Rest parteilos (wie sich später herausstellt, vor allem ehemalige SED-GenossInnen). Der Altersdurchschnitt der Aufstehenden beträgt ca. 60 Jahre (+/- zehn).
Erste Phase: Auf der Suche nach Inhalten
Unsere Treffen sind anfangs gut besucht, oft bis zu 25 TeilnehmerInnen aus unserem Landkreis. Die weltanschauliche Bandbreite reicht von Grundgesetzverteidigern („Man müsste nur das durchsetzen, was im Grundgesetz der BRD verankert ist“), über Friedensaktivisten bis hin zu „Weltrevolutionären“, die sich selbst so vorstellen („Ohne einen grundlegenden Systemwechsel geht gar nichts!“). Selbst ein ehemaliger „hoher Genosse“ des FDJ-Zentralrats der DDR erscheint in unserer Runde. Es wird offen und vehement diskutiert, was „Aufstehen“ verkörpern soll. Die GenossInnen der Linkspartei versuchen, richtungsweisend zu wirken: „Sahra hat gesagt …“, „Sahra hat gemeint …“.
Aber, es gibt nicht wirklich Richtungsvorgaben „von oben“, „Top-down“ funktioniert nicht. Die „Vorgaben“ aus Berlin sind verschwiemelt: „Man müsse in die anderen Parteien aus einer linken Position heraus einwirken“. Aufstehen als „fünfte Kolonne“, die jetzt mal das tut, was SPD, Grüne und Linke verschlafen? Es erscheint ein „Leitfaden“ für Aufstehen-Treffen, darin, man wolle „keine stundenlangen Fachdebatten“. Ich werfe mich natürlich auch in die Diskussion um die Sinnsuche für Aufstehen. Hier ein exemplarischer Dialog: Eine Genossin der Linkspartei: „Wir sind hier, um einen Auftrag zu erfüllen! Wir müssen die Jugend erreichen und politisch mitnehmen!“. Ich: „Ich erfülle von niemandem einen Auftrag. Ich bin hier um mitzuwirken, die Spaltung der Linken zu verstehen und langfristig zu überwinden. Es geht um die Suche nach einer linken Position, die verbindet“. Sie: „Dann bist Du hier wohl fehl am Platz und solltest besser gehen“.
Zweite Phase: Der Aktionismus obsiegt
Die erhofften Vorgaben aus „Berlin“ bleiben aus. Ein ominöser „Trägerverein“ in Berlin sondert undurchsichtige Botschaften ab. Der Handlungsdruck an der „Basis“ nimmt zu. Man entschließt sich zu den hinlänglich bekannten Agitprop-Maßnahmen: Vorbereitung und Organisation eines Standes zum 1. Mai, Teilnahme an einer AfD-Gegendemo und ähnliches.
Ich teile Sahra Wagenknecht im Dezember 2018 meine Bedenken in einem Brief mit. „In der Psychotherapie gibt es den guten Dreischritt Fühlen – Denken – Handeln“, schreibe ich ihr. Wird bereits ein Schritt dieser drei vernachlässigt oder vereinseitigt, gerät unser seelischer Apparat in die Schieflage: „Die dann entstehenden Pole sind wohlbekannt: „Gefühlsduselei“ auf der einen Seite, „Aktionismus“ auf der anderen Seite und die „Oberschlauies“ (Denken) können dann weder das eine noch das andere verhindern.“ Ich teile ihr meine Befürchtung mit, dass zur Zeit der Aktionismus befeuert werde. Dass das Nachdenken deklassiert werde durch das Abraten von „stundenlangen Fachdebatten“. Sie antwortete mir, allerdings nur sehr allgemein: mit Gedanken zum Verhältnis von Demokratie und Pflege (-notstand).
Dritte Phase: Ein bisschen „Graswurzelbewegung“
Die Agitprop-Aktionen lassen die Attraktivität von Aufstehen in unserem Landkreis nicht wachsen. Die ausbleibende Verständigung über „Was ist eigentlich links?“ dezimiert den TeilnehmerInnenkreis erheblich. Es bleiben vielleicht zehn ernsthaft Interessierte übrig, die dann bald erkennen, daß diese Frage „Was ist links?“ über konkrete Themen erarbeitet werden muss. Es gründen sich zwei Arbeitsgruppen, zum einen „Umwelt“, zum anderen „Pflege“. Ich gehöre der AG Pflege an. In unserer AG Pflege versuchen wir den Spagat zwischen der Analyse konkreter Pflegeproblematik in unserem Landkreis und der Verortung allgemeiner linker Fragestellungen dabei. Und: Wir werden fündig und kommen zu Ergebnissen. Pflege hat sich auch in unserem Landkreis zum „Eigentum“ von Pflegekartellen entwickelt. Pflege ist deshalb von den Betroffenen, den Angehörigen und dem Pflegepersonal entfremdet worden. Pflege wird zur Erwirtschaftung von enormem Profit mißbraucht. Dieser Profit kommt weder den Pflegebedürftigen, noch dem Personal zu Gute. Ganz im Gegenteil werden die steigenden Pflegekosten den Pflegebedürftigen und deren Familien aufgebürdet.
Wir setzen uns auch mit alternativen, linken Modellen der Pflege auseinander. Unter welchen Bedingungen ist Pflege in Würde möglich? Wie stärken wir bürgerschaftliches Engagement? Wie fördern wir regionale, familienahe oder genossenschaftliche Strukturen in der Pflege? Wie verhindern wir Pflege als Form der Gewinnmaximierung?
Eine kleine sechsköpfige Gruppe, die sich über den linken Umgang mit einem Sachthema definiert, der es relativ egal ist, ob sie irgendwie Aufstehen-konform agiert, bohrt sich in die Pflegepolitik ihres Landkreises. Die kopflastige Sturzgeburt von Aufstehen über InitiatorInnen („Top-down“) ändert ihre politische Wirkrichtung um 180 Grad in eine Graswurzelbewegung („Bottom-up“).
Vierte Phase: Die Angst, eine Graswurzelbewegung zu sein
Bei unserem ersten öffentlichen Diskussionsforum luden wir InteressentInnen über unsere sechs Namen ein. Wir übernahmen also persönlich die Verantwortung für diese Veranstaltung. Der Name Aufstehen fungierte nur als Hintergrund für unser Tun. An dieser Stelle meldeten sich die ersten Bedenkenträger aus unserer Landkreisgruppe. Was ist mit den Haftungspflichten auf einer solchen Veranstaltung? Wenn sich jemand ein Bein bricht? Wenn ein Feuer entsteht? Wenn es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen mit den Rechten kommt, das Inventar demoliert wird? Wenn jemand im Namen von Aufstehen Hakenkreuz-Schmierereien macht? Es brechen sich die vielfältigsten Bedrohungsphantasien Bahn, denen man ungeschützt und ungesichert ausgeliefert sein könnte.
Auf Landesebene sind solchen Bedenken längst Taten gefolgt. Eine Initiativgruppe arbeitete an seitenlangen Statutsentwürfen für einen „Trägerverein“ zum einen und einen „Förderverein“ zum anderen. Die Unterscheidung zwischen beiden ist undurchsichtig, man erhoffe sich durch diese Vereine die rechtliche Absicherung von „Aufstehen“. Diese Initiativgruppe schafft es, den Gedanken der Gründung von Vereinen in die elf schon existierenden Landkreisgruppen des Landes zu tragen. Dort wird er begierig aufgenommen.
An dieser Stelle passiert ein neuer Richtungswechsel. Die eben gerade begonnene Sachthemenarbeit, die offensichtlich eher als Graswurzelbewegung funktioniert, wird überformt von einer formalistischen Diskussion über Vereinsgründungen. Die Form obsiegt über den Inhalt, statt dass sich aus der inhaltlichen Arbeit heraus die formgebenden Strukturen entwickeln können. Hier passiert eindeutig ein Rückschritt – oder, vielleicht ideologischer ausgerückt: Es ist reaktionär. Ich fühle mich an die zynische Geschichtslektion erinnert: Deutschland ist das Land der halben Revolutionen, aber immer danach – einer ganzen Restauration.
Was ist passiert? Man stelle sich mal vor, Extinction Rebellion gründet erst einen Verein und in seine Satzung schreibt er die Ziele und Aktivitätsabsichten hinein und wartet, dass diese Satzung von einem Amtsgericht genehmigt wird. Oder Carola Rackete bittet die italienische Regierung, ihre Zustimmung für die Rettung von Flüchtlingen zu geben. Bliebe diese Zustimmung aus, würde sie natürlich keine Flüchtlinge an Bord nehmen. Und wenn man einen Systemwechsel in den daseinsvorsorgenden Lebensbereichen (Wohnen, Gesundheit, Verkehr, Pflege, Gas, Wasser, Strom etc.) anstrebt, sich erst das Plazet vom Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe holt. Ja, es wäre irrwitzig oder vornehmer formuliert: eine contradictio in adiecto.
Es ist eine psychologische Binsenweisheit, der Ruf nach Sicherheit erschallt immer dann, wenn es um Angst geht. Diese Angst ist nicht einfach eine „Furcht vor …“, sondern eine die Existenz bedrohende Angst. In dieser Angst vereinen sich zwei Komponenten. Es ist erstens die frühe individuelle Angst (oft eher unbewusst): Habe ich das Recht bekommen, auf dieser Welt zu sein? Und es ist zweitens eine als extrem machtvoll erlebte soziale Bedrohung. Die „strukturelle Gewalt“ (Michel Foucault) des Staates und seiner zu ihm gehörigen Eliten wird als übermächtig erlebt, die existenzzerstörerisch daherkommen kann. Wer hätte gedacht, dass das Tagelöhnertum in unserer ach so modernen Zivilgesellschaft wieder eingeführt wird – es nennt sich jetzt nur „Zeitarbeit“. Wer hätte gedacht, wie umfassend man einem Menschen die Würde nehmen kann – es nennt sich jetzt „Hartz IV“. Diese beiden Komponenten der Angst bekommen in Deutschland eine spezifische Färbung – „The German Angst“. Es ist das Erleben zweier Weltkriege, es ist das Erleben zweier Diktaturen, es ist die unfassbare Gewissheit, dass Deutsche das Töten von Menschen industriell perfektioniert haben – in diesem historischen Sumpf sind wir mit unserer Angst verstrickt.
Diese „German Angst“ hat eine weitere, spezifisch deutsche Facette, ich nenne sie kleinbürgerliches Zaudern und Inkonsequenz. Erich Mühsam hat das punktgenau in seinem Gedicht „Der Revoluzzer“ beschrieben, das er der deutschen Sozialdemokratie widmete:
War einmal ein Revoluzzer,
im Zivilstand Lampenputzer;
ging im Revoluzzerschritt
mit den Revoluzzern mit.
Und er schrie: "Ich revolüzze!"
Und die Revoluzzermütze
schob er auf das linke Ohr,
kam sich höchst gefährlich vor.
Doch die Revoluzzer schritten
mitten in der Straßen Mitten,
wo er sonsten unverdrutzt
alle Gaslaternen putzt.
Sie vom Boden zu entfernen,
rupfte man die Gaslaternen
aus dem Straßenpflaster aus,
zwecks des Barrikadenbaus.
Aber unser Revoluzzer
schrie: "Ich bin der Lampenputzer
dieses guten Leuchtelichts.
Bitte, bitte, tut ihm nichts!
Wenn wir ihn' das Licht ausdrehen,
kann kein Bürger nichts mehr sehen.
Laßt die Lampen stehn, ich bitt!
Denn sonst spiel ich nicht mehr mit!"
Doch die Revoluzzer lachten,
und die Gaslaternen krachten,
und der Lampenputzer schlich
fort und weinte bitterlich.
Dann ist er zu Haus geblieben
und hat dort ein Buch geschrieben:
nämlich, wie man revoluzzt
und dabei doch Lampen putzt.
In Deutschland gibt es keine Gelbwesten wie in Frankreich und keine Demonstranten wie in Hongkong. Manch deutscher Aufstehen-Revoluzzer geht nach Hause und schreibt an einer Vereinssatzung. Die Bildung eines Vereins innerhalb der Aufstehen-Bewegung ist nichts anderes als ein kollektiver neurotischer Abwehrreflex dieser „German Angst“. Man sucht die traute „Sicherheit“ eines Vereins (manche Aufstehenden träumen sogar von einer Parteigründung) und hat damit sofort das kreative, emanzipatorische, bürgerschaftliche, kämpferische Engagement der „Einzelnen in Verbundenheit gegen und für etwas“ im Keim erstickt.
Was wäre die Alternative gewesen? Die Alternative wäre gewesen diese „German Angst“ auszuhalten. In der Psychotherapie nennen wir das auch „containen“. Gemeinschaftliches Containen ist sogar emotional höchstwirksam („Geteiltes Leid ist halbes Leid“). Dazu braucht es keinen hierarchisch strukturierten Verein, sondern die Verbundenheit untereinander in Face-to-face-Beziehungen (man kennt sich, man vertraut sich). Dies kann eine Graswurzelbewegung leisten.
Aber, es gibt noch einen wunden Punkt. Können wir Graswurzelarbeit? Haben wir damit Erfahrungen und so damit entwickelte Fähigkeiten? Die Erfahrungen aus meiner Aufstehen-Zeit besagen: Wir können es nicht, weil wir es nicht gelernt haben. Die guten Erfahrungen der „Wende-Zeit“ mit ihren „Runden Tischen“ haben über die letzten 30 Jahre nicht wirklich getragen. In einer Graswurzelbewegung wäre konsens- und basisdemokratisch zu arbeiten. Was ist ein Konsens? Wann ist er erreicht? Wie lange darf, wie lange muss diskutiert werden, bis es einen tragenden Konsens gibt? Die Veranstaltungen auf Landes- und Landkreisebene von Aufstehen, bei denen ich dabei war, mutierten alle zu reinen, einfachen Mehrheitsentscheidungen, schließlich nur noch über Handzeichen. Es wurde nichts mehr wirklich ausdiskutiert. Ich habe auf zwei langandauernden Veranstaltungen versucht, für die Notwendigkeit der Graswurzelarbeit bei Aufstehen zu argumentieren. Per einfachen Mehrheitsbeschluss bin ich dann von den Befürwortern der Vereinsgründungen überstimmt worden.
Ja, dann ist der „Revoluzzer-Autor“ nach Hause gegangen und hat diesen Artikel über Aufstehen geschrieben … Die „Vereinsmeierei“ hatte nichts mehr mit meinem Anliegen zu tun, warum ich vor über einem Jahr zu Aufstehen gegangen bin.
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