Abschied vom Kühlturm: Deutschlands letzte Atomkraftwerke gehen vom Netz
Energie Atomtod: Am 15. April wird der Atomausstieg mit der Abschaltung der Kernkraftwerke Emsland, Isar 2 und Neckarwestheim 2 real. Beim Gedanken an Brokdorf – oder ans Klima – muss man da schon mal einen Seufzer unterdrücken
Da ist zwar keine Radioaktivität, aber bestimmt Palmöl drin
Foto: TV-Yesterday/Interfoto/AKG-Images
Ist eigentlich ein Volksfest geplant? Mit Luftballons, Hüpfburgen, Zuckerwatte und alten Protestliedern von Inga Rumpf bis Wolfgang Ambros? Wird es Reden geben von Anti-AKW-Aktivistinnen, die damals studierten und heute in Rente sind? Hatten sie nicht immer recht?
Nennt man die Dinger eigentlich Atomkraftwerke oder Kernkraftwerke? Über diese Frage tobte schon ein Streit, bevor das Wort „Framing“ die deutsche Sprache bereicherte. Atom klingt schmutzig und böse, Kern rein und gut. Nun sind es nur noch drei, und die werden gemäß Atomgesetz nun endgültig abgeschaltet. Emsland, Isar 2 und – allen voran, „Streckbetrieb“ hin oder her – zunächst Neckarwestheim 2.
Von einem Fest ist nichts bekannt. Es wird daher ein beiläufig
in beiläufiger Akt technischer Natur sein, vermutlich nicht einmal eine kleine Delle im landesweiten Spannungsnetz. Zu Ende geht damit am 15. April 2023 in Deutschland ein Zeitalter, das am 17. Juni 1961 mit der Inbetriebnahme des Kernkraftwerks Kahl in Unterfranken angebrochen war. Mit einer nur vorläufigen Betriebsgenehmigung und mehr als sechs Tonnen Uran aus den USA, per Schiff nach Bremen transportiert und mit der Bahn dann nach Bayern. Widerstand gab es damals keinen.Warum auch? Es wäre ein Widerstand gegen die Zukunft selbst gewesen. Und die strahlte in der energiehungrigen Republik nicht radioaktiv, sondern, wie im übrigen Europa, in den schillerndsten Farben. Ein Monument dieses Aufbruchs ist das Atomium in Brüssel, die 102 Meter hohe und begehbare Umsetzung der Elementarzelle des Eisens – Symbol der friedlichen Nutzung der Kernenergie. Eine Mischung aus Eiffelturm und Centre Pompidou. Vergessen ist, dass unter dem architektonischen Kuriosum ein funktionstüchtiger Versuchsreaktor eifrig sein strahlendes Werk verrichtete.Von Demokrit bis Pausewang„Nur scheinbar hat ein Ding eine Farbe, nur scheinbar ist es süß oder bitter, in Wirklichkeit gibt es nur Atome im leeren Raum“, hatte der griechische Philosoph Demokrit geschrieben und die Beschaffenheit der Welt auf kleinste Teilchen zurückgeführt, die unteilbar („a-tomos“) seien. Bis zur Bestätigung dieser antiken Hypothese und der Teilung des Unteilbaren sollten nur knapp 2.400 Jahre vergehen.Was bei dieser Spaltung freigesetzt wird, versetzte selbst den „Vater der Atombombe“ in heilige Ehrfurcht. Nach der ersten erfolgreichen Zündung fühlte sich Robert Oppenheimer, wie er später erzählte, an eine Passage der Bhagavad Gita erinnert, in der Prinz Arjuna von Gott Krishna unvorstellbare Macht gegeben wird. Der Gott, um den Prinzen zu beeindrucken, nimmt seine vielarmige Gestalt an und sagt: „Jetzt bin ich der Tod geworden, Zerstörer der Welten.“Die Entfesselung dessen, „was die Welt im Innersten zusammenhält“, hatte den Krieg auf dem asiatischen Schauplatz verkürzt – und trug in sich bereits den Keim zum nuklearen Patt des Kalten Krieges. So prekär dieser Frieden war, so vehement gestaltete sich der Umschlag ins Optimistische. Was vernichtet hatte, sollte nun als –gottgegebene – Kraft das Gute schaffen.In den USA fanden die zivilisatorischen Möglichkeiten der Kernspaltung ihren ästhetischen Niederschlag etwa in futuristischem Design namens Googie – vom Theme Building am Flughafen von Los Angeles über die Zeichentrickserie The Jetsons bis zu den verwegenen Heckflossen der neuen Automobile aus Detroit.In Frankreich, ebenso zukunftsselig, schneiderte Jacques Heim einen minimalistisch-zweiteiligen Badeanzug für Frauen, genannt „Atom“. Die Variante seines Konkurrenten Louis Réard aber setzte sich durch, der „Bikini“ – benannt nach dem durch Atombombentests bekannten Südsee-Atoll. Damen waren „Sexbomben“ mit „Atombusen“, verspeisten „Uran Burger“ und putzten sich mit „radioaktiver“ Zahnpasta die Zähne.Was wie ein naiver Abwehrzauber wirkte, war wohl auch genau das. Zumal die segensreichen Effekte der Atomkraft noch eine Weile auf sich warten ließen. Hingegen fand die verheerende Wirkung dieser Kraft auf Hiroshima und Nagasaki in der japanischen Popkultur ihren Niederschlag in Godzilla, der entfesselten Urgewalt. In den USA war es vor allem der Regisseur Jack Arnold, der das Unbehagen an den Folgen der Radioaktivität in Filmen wie Tarantula oder The Incredible Shrinking Man fasste.In Deutschland ließ es sich unter dem nuklearen Schirm der USA ganz gut leben und die Gefahr des jederzeit drohenden „Atomtods“ ganz gut in den Alltag integrieren. Als der Protest sich dann regte, tat er das sowohl gegen die militärische wie auch friedliche Variante der Nutzung von Kernenergie – 1979 gegen den NATO-Doppelbeschluss, 1976 und 1981 in regelrechten „Schlachten“ um das AKW Brokdorf an der Unterelbe.Wiederaufbereitungsanlage. Schnelle Brüter. Endlager. Immer wieder entzündete sich Widerstand gegen einzelne Projekte, er galt aber generell der Nutzung von Atomkraft. „Atomkraft? Nein danke“– und dazu die lächelnde Sonne. Sonnenblumen, manchmal aber auch Molotow-Cocktails – es entwickelte sich eine breite zivilgesellschaftliche Bewegung, gleichermaßen getragen von besorgten Wissenschaftlern wie engagierten Politikern oder Studenten. Man wählte grün, sobald man es konnte, verehrte Beuys und las die Bücher der ersten prominenten Stimmen gegen die Atomkraft: Robert Jungk, Hoimar von Ditfurth oder Gudrun Pausewang, die Kassandra aus Bamberg.Was, wenn das aus dem Ruder läuft? Wie damals in Harrisburg, wie damals in Three Mile Island – wie später in Tschernobyl und, noch später, in Fukushima? Und überhaupt, wohin mit dem strahlenden Müll?In meiner Heimatstadt habe ich selbst seinerzeit die Castoren vorbeirollen sehen, unter Polizeischutz und in bedächtigem Schritttempo, wie bei einer Prozession. Und in Clausthal im Harz habe ich Studentinnen und Studenten des einzigen Studiengangs in Deutschland besucht, die sich beruflich mit der Frage der „Entsorgung“ beschäftigen – und dafür teilweise diskriminiert werden, als bewürben sie sich um einen Platz im Cockpit des B-29-Bombers Enola Gay, der bei den Atombombenabwürfen auf Hiroshima und Nagasaki eingesetzt wurde.Rückkehr des IdyllsIm Studium geht es um die Vor- und Nachteile von Tonerde, Granit oder Salzstöcken. Ebenfalls unter „dem Gesichtspunkt der Ewigkeit“ wird diskutiert, wie künftige Generationen vor den Gefahren eines Endlagers gewarnt werden könnten. Zum Beispiel mit Katzen, deren Fell sich bei Radioaktivität verfärbt.Die Anti-AKW-Bewegung der 1980er-Jahre jedenfalls bezog einen guten Teil ihrer Wucht aus nichts Geringerem als dem Bewusstsein, die Apokalypse abzuwenden. Dabei ist es nicht ohne Ironie, dass das Ende der Kernkraft in Deutschland von einer CDU-Kanzlerin besiegelt wurde – während die Grünen in der Regierung den Tagebau von RWE protegieren.Das ist nicht der einzige Grund, warum die Abschaltung der Atomkraftwerke nicht mit einem Volksfest – oder einem nationalen Feiertag – begangenen wird. Immer schon war das Nukleare eine High-Tech-Dreingabe zur fossilen Energie, die im Windschatten der atomaren Bedrohung fröhlich weitergenutzt wurde.Die Probleme haben sich verschoben. Als Fridays for Future 2019 gegründet wurde, war der Ausstieg aus der Atomkraft bereits seit acht Jahren beschlossene Sache. Wer über Klimagerechtigkeit nachdenkt, wirft nicht selten einen Seitenblick auf die – immerhin – klimaneutrale Kernkraft. Seufzt, wendet sich wieder ab. Wäre schon schön gewesen, aber …Feiern könnte man immerhin den Rückbau. Der Kühlturm von Mülheim-Kärlich am Rhein wurde von einem Spezialbagger von oben weggeknabbert, als wäre ein betonhungriger Käfer am Werk. Überhaupt gehört es zu den Eigentümlichkeiten der AKW, dass sie in entlegenen Gebieten an schönen Flüssen liegen – Ems, Neckar, Isar.Denkt man sich die industriellen Kolosse weg, könnte man sich im Idyll auch Campingplätze vorstellen. Haubentaucher kann man dort beobachten und im Frühling die Kraniche, Katzen mit unverfärbtem Fell. Vielleicht sollte man die letzten drei Kathedralen einer verfehlten Energiepolitik besuchen, bevor sie weg sind – und flache Steine übers Wasser flitschen lassen. An diesen Orten herrscht schon eine besondere Atmosphäre, und es ist nicht nur Hybris. Nichts ist melancholischer als eine Zukunft von gestern, die aus der Gegenwart gefallen ist.Placeholder infobox-1