So jung kommen wir nicht mehr zusammen. Das älteste Problem der Rockmusik ist ihr Altern. Noch den eruptivsten Aufbrüchen wohnt ein Versenden und Versanden inne. Der spröde und flirrende Zauber des Anfangs verfliegt, jede Wiederholung ist Fälschung. Und doch gelingt dem Genre immer wieder die Erneuerung, und immer wieder ist das ein urgewaltiges Ereignis – bis die Zeit erneut ins Rad greift und die Dinge verzettelt und verfettet.
Jede Generation hat daher ihre Sonne oder ihr gegensätzliches Doppelgestirn, wie die Rolling Stones und die Beatles, wie die Sex Pistols, wie Nirvana, wie Blur und Oasis. Wer 2002 jung war, für den erfüllten The Strokes diese Funktion – und eben The Libertines. Deren Up the Bracket war Urknall und Blaupause für alle, die in den Nullerjahren ungestümen Rock machen sollten. Aggressive Gitarren, dreckig gespielt. Leidenschaftlicher Gesang, windschief dargeboten. Und dazu eine Rhythmusgruppe, wie ein Rückgrat aus Stahlgelenken. Der Gestus war Punk, zugleich wurzelte diese Musik tief im Folk. Hymne und Zerstörung, Hand in Hand auf dem zerbrechlichen Steg der Schönheit.
Die Glimmer Twins
Wichtiger noch als die Melodien, sozusagen das Gelée Royale jeder populären Musik, war die Legende von der Freundschaft zwischen Pete Doherty und Carl Barât. Der Rhythmusgitarrist und der Leadgitarrist schrieben beide die Songs und bewohnten zeitweilig sogar eine gemeinsame Wohnung, die durch guerilla gigs zur Keimzelle der Libertines werden sollte. Im Vorprogramm der Strokes demonstrierten sie, dass sie ins Hauptprogramm gehörten. Ihrer Single I Get Along wurde wegen allzu vieler „cunts“ und „fucks“ das Airplay im Radio verweigert, was noch nie einer Band geschadet hat, im Gegenteil.
Doch gleich zu Beginn ihrer kurzen Geschichte traten Professionalisierung und Exzess in Widerstreit. Während Barât mit großer Ernsthaftigkeit an einer Verstetigung ihrer Karriere arbeitete, konnte Doherty Alkohol, Heroin und Crack nicht widerstehen. Zum Teufelskreis gehörte, dass jeder Exzess den Mythos vom Märtyrer weiter beglaubigte. Nach den Gesetzen der Branche hätte Doherty längst mit einer Überdosis vorgefunden werden müssen. Als sich die Libertines 2004 von ihm trennten, standen die Wetten schlecht, dass er 2015 noch leben würde. Barât ging mit den Dirty Pretty Things eigene Wege, Doherty mit den Babyshambles und solo. An den Erfolg oder auch nur die Wut der Libertines konnten beide nicht anknüpfen.
Gegen die Sucht kämpft Doherty noch immer, seit einiger Zeit in einer Klinik in Thailand. Dort fanden sich, nach einigen Reunion-Konzerten, auch alle anderen Bandmitglieder ein, um Anthems for Doomed Youth aufzunehmen. Und schon in Gunga Din, der ersten Single, nehmen die Glimmer Twins unter dem Flirren der Gitarren gewissenhaft alle losen Enden der Vergangenheit auf. Doherty singt davon, wieder „eine Vene finden“ zu müssen, bevor ihm Barât im Refrain beherzt zur Seite springt: „If you stay strong, you’re a better man than I!“ Also alles wieder da?
Ja. Und nein, denn natürlich sind die Libertines keine Twentysomethings mehr. Sie sind Thirtysomethings, die ihre Probleme noch immer nicht vollständig im Griff haben, und treffen damit den Nerv eines mitgealterten Publikums in prekären Umständen, das ebenfalls zwischen „Nicht mehr“ und „Noch nicht“ gefangen ist. Prekär nicht im Sinne von armutsgefährdet, sondern transzendent verstanden, als paradoxer Zustand dauerhafter und damit stabiler Unsicherheit. Das ist nicht nur sympathisch, es findet auch seinen überzeugenden künstlerischen Ausdruck. Es ist alles nicht mehr Punk und noch lange kein Altherrenrock. Noch immer bleiben Ideen nur Ansätze, fällt Schönheit unerwartet in Scherben und erwächst aus dem Chaos unerwartet Euphorisches. Die Dynamik dieser Musik besteht in ihrer Unberechenbarkeit und, ja, Instabilität.
Manche Songs sind von Live-Auftritten bekannt, Reprisen älterer Titel oder an Dohertys Solowerk angelehnt, vor allem an das intime Down in Albion. Die Produktion ist detailverliebt, es gibt bisweilen opulent viele Gitarrenspuren und lautmalerische Motorräder, flatternde Filmspulen oder Wellen, die seufzend einen Strand bespülen. Glasgow Coma Scale Blues mit seinem eingebauten Rolling-Stones-Gedächtnis-Geträller handelt, wie so vieles auf diesem Album, von den Libertines selbst und was damals alles falsch lief. Auf Heart of the Matter erklingt ein Synthesizer, was Hardcore-Fans zuvor Kopfzerbrechen bereitet hatte, sich aber in Grenzen hält. The Milkman’s Horse borgt seine Akkordfolgen von Radioheads Creep, das sich seinerseits beim Hollies-Hit The Air that I Breathe bedient hatte. Zuletzt gibt es, auf Dead for Love, noch einen Ausfallschritt in den Vaudeville und Rezitate russischer Gedichte.
Anthems for A Doomed Youth ist eine würdige Reminiszenz vergangener Tage, kein peinliches Reenactment eines verflogenen Lebensgefühls. Besser hätten die Libertines ihr eigenes Erbe nicht verwalten können. Sie haben sich nicht verzettelt, sind nicht verfettet und werden so jung nicht mehr zusammenkommen.
Info
Anthems for Doomed Youth The Libertines Universal 2015
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