Abende gab’s, an denen ich mich stumpfem Schwachsinn in Serie (The Mandalorian) hingab, horizontal auf dem Sofa, stundenlang, und dabei Schokolade in mich hineinstopfte, namentlich die 270-Gramm-Packung Noisette von Milka, die hat rund 1.400 Kalorien, was dem Tagesbedarf eines erwachsenen Menschen entspricht, aber reichlich süß ist, also noch mal 1.000 Kalorien salzige Chips hinterher, dazwischen prickelnde Weißweinschorle, der Mandalorianer hat allerhand zu tun, und so ein Abend ist lang.
Abende gab’s dann wieder, an denen ich, weil ich irgendwann davon geträumt hatte, mir Laufschuhe zuzubinden und einfach loszulaufen, die Laufschuhe zugebunden habe und einfach losgelaufen bin, erst drei, dann vier, dann sechs Kilometer, zur Dämmerung, wenn die Eule der Minerva ihren Flug beginnt, damit mich „Fettschlauch“, wie mein Bruder mich nennt, niemand einherschnaufen sieht, und weil das klappte, lief ich bald täglich, bis ich einen Hüftschaden befürchtete, aber es war, wie ich bei Youtube lernte, nur der tractus iliotibilais und nichts, was mit ein wenig Training nicht zu beheben wäre an langen Abenden.
Bis das Ohr glühte, wirklich
Abende gab’s, an denen ich, statt lange Mails zu schreiben, kurzerhand zum Telefonhörer griff, jawohl, die gute alte Kulturtechnik der fernmündlichen Kommunikation, und so mit Leuten ins Gespräch kam, die ich schon seit Jahren nicht gesprochen, geschweige denn gesehen habe, einfach, weil die auch alle zu Hause hockten, falls sie nicht gerade laufen waren, und diese Gespräche wollten kein Ende nehmen, man kommt beim Reden vom Hölzchen flink aufs Stöckchen, bis das Ohr glühte, wirklich glühte, denn so ein Abend ist lang.
Exzess hat viele Gesichter, und sein traurigstes zeigt er bei exzessiver Einsamkeit. Übertreiben lässt sich, je nach Neigung, allerhand, das Sinnvolle wie das Blödsinnige. Ob das nun wirklich eine Ausschweifung ist, kann ich nicht wissen, sofern ich mich ihr alleine hingebe. Exzess ist immer eine Zuschreibung. Da hat’s dann wohl wieder jemand übertrieben, heißt es dann. Wer es gerade übertreibt, merkt das in der Regel nicht. Oder zu spät.
Exzess ist vielleicht nicht ganz so alt wie die Menschheit, mindestens aber so alt wie die Jagd. Ist Überfluss, ist Exzess. Was sich über Tage hinweg und rings um den ausgeweideten Kadaver eines erfolgreich erlegten Wollnashorns abgespielt haben mag, bedarf keiner ausgeprägten Vorstellungskraft.
Das ändert sich erst mit dem Weizen, dem Korn und seiner Speicherung. Bei schlechter Lagerung gärt es, wird Alkohol, wird Bier, und so zelebrierten schon die Ägypter ihre exzessiven Besäufnisse als gesellschaftliche Ereignisse. Zu Ehren der Göttin Hathor wurde gesoffen, was das Zeug hält, und darüber hinaus, bis am Ende ein Schlamm aus Bier und Kotze knöchelhoch im Tempel stand. Wer während dieser Exzesse gezeugt wurde, galt als Glückskind.
So kam der gemeinschaftliche Exzess in die Welt, die rituelle „Überschreitung“ (excedere) gesellschaftlicher Grenzen. Wobei die Überschreitung erst die Grenze macht. Bis hierher und nicht weiter – von Ausnahmen abgesehen, die das Übertreten der Grenzen in einem gewissen Rahmen ermöglichen, um eine Übertretung außerhalb dieses Rahmens umso schärfer bestrafen zu können.
Für die alten Griechen erfüllte das „Symposion“ diesen Zweck, für glaubensfeste Muslime ist es das Zuckerfest, für Katholiken das Ende der Fastenzeit, für Rheinländer der Karneval und für Bayern das Oktoberfest. Es handelt sich offenbar bei der Ausschweifung um eine anthropologische Konstante. Die Lücke in der Ordnung, die die Ordnung erträglich macht.
Nun hat der Exzess eine strenge Zwillingsschwester: die Entsagung. Sie kennt ihre eigenen Ekstasen und rauschartigen Zustände, bleibt dabei aber ganz gerne alleine und zielt auf Höheres, bestenfalls spirituelle Erkenntnis. Beide stehen in einem dichotomischen Verhältnis. Ohne einander ergeben sie keinen Sinn. Exzess zeigt, was die Menschen sind. Entsagung lehrt, was der Mensch sein könnte. Ausschlag nach oben, Ausschlag nach unten. Und ohne Ausschläge kein Gleichgewicht.
Die pandemischen Zeitläufte unserer Tage wiederum lehren den Menschen, was er umständehalber gerade nicht sein kann: gesellig exzessiv.
Der Schritt über die Grenze ist gegenwärtig verboten. Ausnahmen gibt es nicht. Es geht nicht nur um laute Musik, Kokain auf dem Klo oder das gesellige Bierchen an der Straßenecke. Es geht um Wesentlicheres, Älteres. Ein Kollege meinte neulich, am Telefon, er vermisse inzwischen einfach nur „das Gedränge“, den Umstand, dass man wildfremden Menschen auf die Füße tritt und von ihnen auf die Füße getreten bekommt.
Nach Exzess klingt dieser Wunsch nicht, verweist aber auf die obwaltende Not. Vermisst wird inzwischen schon, was früher zu den unangenehmen Aspekten gemeinschaftlicher Feierei zählte – die Zumutung anderer Menschen, die der gleiche Wunsch an den gleichen Ort getrieben hat.
Notwendigerweise ist es die Entsagung, die in pandemischen Zeiten ihr hageres Haupt erhebt. Was einst die freie Wahl des Eremiten oder der Nonne gewesen sein mag, ist nun Imperativ noch der gewöhnlichsten und feierlustigsten Leute. Sie haben zu Hause zu bleiben. Dieser Umstand zeitigt Absurditäten, wie sie eingangs exemplarisch beschrieben wurden. Es handelt sich um Exzesse der Entsagung. Maßloses Maßhalten, und sei’s von Klopapier. Spiritueller Gewinn ist so schwerlich einzustreichen.
Wer es sich finanziell und intellektuell leisten kann, der könnte sich durchaus der Entsagung in die Arme werfen. Leute lernen, auf den Händen zu gehen. Leute lesen Auf der Suche nach der verlorenen Zeit von Marcel Proust. Leute lernen, was Meditation ist. Leute lernen die „kleinen Dinge“ zu schätzen. Leute entscheiden sich, versuchsweise sogar die Sache mit der christlichen Fastenzeit mal ernst zu nehmen – die ja auch nichts anderes ist als ein großtherapeutisches Angebot avant la lettre.
In erster Linie aber sind die Leute auf sich selbst zurückgeworfen. Und das macht die Leute sauer. Ein zoon politicon ohne politicon ist nur noch zoon, als Lebewesen zwar fähig zum Exzess, aber das nur noch in seinen tristesten Formen (s.o.).
Schon sind die politischen Folgen spürbar. Ein ungerichteter Groll macht sich breit, ein gesellschaftlicher Unmut auch bei jenen Menschen, die gar keiner echten Quarantäne unterliegen, W-Lan haben und auch sonst beruflich oder in Alltäglichkeiten keineswegs eingeschränkt sind. Sichtbar wird, wie wesentlich der eingehegte Exzess – sei es das Berghain, sei es das Oktoberfest – für unsere Gesellschaft ist. Die Sau, sie will irgendwann rausgelassen werden.
Exzess, zeigt sich, ist dann doch eben kein Luxus. Sondern so etwas wie das Schoßhündchen der Herrschenden, das die Beherrschten hin und wieder streicheln dürfen. Wenn der Billigflug nach Mallorca, die Fahrt nach Ischgl, das Fußballspiel, das Punk-Konzert, der ökumenische Gottesdienst, der verdammte Fasching nicht drin ist – dann merken die Beherrschten, was ihnen fehlt. Nicht notwendigerweise die „Kultur“, ohne die es „still“ wird. Sondern der gemeinschaftlich begangene Übertritt. Wer zu Hause bleiben soll, schweift nicht aus.
Trippelnd öffnen, dann Boom?
Gefordert ist gegenwärtig nicht das Beugen unter ein Ritual, nicht einmal, wie üblich, unter die Interessen des Kapitals – das leidet, wie man hört, wirtschaftlich ebenso wie die von ihm normalerweise Ausgebeuteten unter dem Gebot der Vernunft. Außer Kraft gesetzt ist sogar diese Norm nicht von revolutionärem Willen, sondern vom Diktat virologisch geschulter Technokraten. Sogar dem Markt sind seine unsichtbaren Hände vorübergehend gefesselt, das gefällt ihm gar nicht. Volkswirtschaften wollen nicht recht weiterwachsen, wenn ihnen ihre Exzesse versagt sind.
Bald wird sich zeigen, ob Vorfreude wirklich „die schönste Freude“ ist. Schon knüpfen sich Sehnsüchte an das bevorstehende Ende des Lockdowns, die schwerlich einzulösen sein werden. Statt „Lockerungsexzessen“, noch so ein Wort aus dem vergangenen Herbst, erwarten uns nur trippelnde Öffnungsschritte. Ökonomisch können wir uns angeblich auf einen Boom, kulturell mindestens auf eine Neuauflage der „goldenen Zwanziger“ freuen.
Meine Prognose: Der Exzess wird wieder seine üblichen Gesichter zeigen, und alles bleibt beim Alten.
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