In einem Punkt scheinen sich alle Biografen einig zu sein: Jean Jaurès’ Sozialismus sei zu Beginn des 20. Jahrhunderts wegen seines Engagements für die Republik eine große Ermunterung für die europäische Demokratie gewesen. Er habe die Zerstörung der Freiheit verworfen und für eine moralische Idee gestritten, so das einhellige Urteil von Gilles Candar und Vincent Duclert in ihrer monumentalen, in diesem Jahr erschienenen Biografie. Zu Lebzeiten verdankte Jaurès seine große Popularität sowohl seiner außerordentlichen Rhetorik als auch der Fähigkeit, um ihn versammelte Anhänger mit stundenlangen Reden (ohne Mikrofon!) in seinen Bann zu ziehen. So geschehen bei jenem denkwürdigen Arbeitermeeting im Pariser Osten, in Pré-Saint-Gervais, als er am 25. Mai 1913 leidenschaftlich gegen drohende Kriegsgefahr wetterte.
Dabei positionierte sich Jaurès innerhalb der französischen und europäischen Arbeiterbewegung eindeutig als Reformist und unterschied sich von Marxisten wie Jules Guesde, den Blanquisten oder Anarchisten. Doch sollte man ihn nicht als „Revisionisten“ einstufen. Nach Ansicht von Madeleine Rébérioux, Herausgeberin der gesammelten Werke von Jaurès (16 Bände), vertrat er „seine sozialistischen Ideen im vollen Bewusstsein des unerträglichen Charakters einer vom Kapitalismus beherrschten Welt (...). Er hing leidenschaftlich an Frankreich und seiner Geschichte, war jedoch ein Feind jeglicher Gewalt (...); er nahm Marx’ Lehre vom Proletariat als dem ‚Subjekt‘ der kommenden ‚klassenlosen Gesellschaft‘ sehr ernst, hatte jedoch ein großes Misstrauen gegenüber den Risiken und der Bürokratie.“
Philosophisch stand Jaurès – auch noch nach seiner Konversion zu den politischen Leitideen des Republikaner-Sozialismus – für eine idealistische Erkenntnis- und Moralphilosophie, die der sozialen Gerechtigkeit verpflichtet war.
Politisierung unter der Obhut von Lucien Herr
Einen entscheidenden Anstoß für die Hinwendung zu den Ideen des Sozialismus hatte Jaurès schon in seinen Studienjahren an der Pariser École Normale Supérieure erhalten. Von dieser Anstalt aufgenommen wurde Jaurès 1878 – nachdem er im Collège Sainte-Barbe von Paris das Abitur mit Auszeichnung bestanden hatte. Er geriet relativ schnell unter die Obhut von Lucien Herr, dem bekannten Bibliothekar dieser Eliteschule, ein überzeugter Sozialist, Republikaner und Patriot, der jedoch kritisch zum Marxismus stand. Dies bedeutete konkret, dass er Distanz zu Jules Guesde hielt, dem Begründer des Parti ouvrier français (POF), der es sich zum Ziel gesetzt hatte, Marxens Lehre von der sozialen Revolution und der Diktatur des Proletariats in Frankreich zu verbreiten.
Diesen Einfluss ist Jaurès wohl zeit seines Lebens nicht mehr losgeworden, auch dann nicht, als er in späteren Jahren versuchte, sich – unter dem Einfluss von Jules Guesde und seinen Mitstreitern – der Marx’schen Lehre vom Klassenkampf anzunähern. Vollständig zum Marxismus „bekehrt“ wurde Jaurès dadurch allerdings nicht, was unter anderem die große öffentliche Diskussion zwischen Jaurès und Guesde in Lille im Jahre 1900 belegt, bei der trotz aller Gemeinsamkeiten auch die unterschiedlichen Positionen klar zutage traten – hier ein an ethischen Werten und am Gedanken der Gerechtigkeit orientierter Republikaner-Sozialismus, dort ein auf die Theorie des revolutionären Klassenkampfes gegründeter revolutionärer Marxismus.
Es blieb bei Rivalitäten zwischen dem radikalen marxistischen Arbeiterführer und dem großen linken, humanistisch gesinnten Republikaner, die zunächst dazu führten, dass Jules Guesde mit seinen Anhängern 1901 den Parti socialiste de France (PSF) gründete, während im Gegenzug Jean Jaurès ein Jahr später in Paris den Parti socialiste français aus der Taufe hob. Ein Zustand, der erst drei Jahre später durch die Fusion beider Formationen unter dem gemeinsamen Dach der SFIO (Section française de l’Internationale ouvrière) überwunden wurde.
„Appell an die Lebenden“
In jener Zeit haben Jaurès’ viel gelesene Leitartikel in der 1904 von ihm gegründeten Tageszeitung L’Humanité viel dazu beigetragen, dass er zum Volkstribun aufsteigen konnte. Zwischen 1905 bis 1914 wurden die Redaktionsräume der L’Humanité zum Hauptquartier für große Kampagnen. Diese standen spätestens seit 1907, dem Jahr des Stuttgarter Kongresses der Sozialistischen Internationale (SI), unter dem Eindruck eines heraufziehenden großen europäischen Kriegs. Wie konnte die Arbeiterbewegung dafür sensibilisiert werden, was vermochte sie dem Unheil entgegenzusetzen? Jaurès hielt Ende November 1912 auf dem Kongress der Arbeiterassoziation in Basel seine wohl leidenschaftlichste Antikriegsrede. Was er von der Kanzel des Baseler Doms herab verkündete, ging als „Appell an die Lebenden“ in die Annalen der Internationale ein. Seine Anspielung auf Schillers Ballade „Das Lied von der Glocke“ entsprang seiner einzigartigen rhetorischen Kraft. Er beschwor die Kriegsgefahr mit Metaphern, die bei den Delegierten wie dem gesamten Auditorium Beifallsstürme auslösten.
„Wir werden in dieser Kirche mit Glockenklängen empfangen“, so Jaurès, „die wie ein Appell zur allgemeinen Versöhnung klingen. Sie erinnerten mich an die Inschrift, die in Schillers Glocke eingraviert war: ‚Vivos voco, MORTUOS PLANGO, FULGURA FRANGO! Ich appelliere an die Lebenden, sich gegen das Ungeheuer zu verteidigen, das am Horizont aufscheint. Mortuos plango: Ich beweine die unzähligen Toten dort drüben im Osten, deren Verwesungsgeruch sich bis zu uns ausgebreitet hat. Fulgura frango: Ich werde die Blitze des Krieges zerbrechen, die die Wolken drohend durchzucken.“
„Krieg dem Kriege“ war denn auch die am Ende des Basler Kongresses verkündete Losung der Sozialistischen Internationale und das Credo des auf diesem Kongress verabschiedeten und proklamierten Manifests. Durch welche konkreten Maßnahmen dies jedoch umgesetzt werden sollte, darüber schwiegen sich dieses Papier und Jaurès selbst als Mitunterzeichner allerdings aus. Im August 1914 sollten fast alle Parteien der SI zu „Schildknappen“ (Rosa Luxemburg) der Kriegsparteien ihrer Länder werden.
Aufruf zu Antikriegsprotesten
Bis zuletzt bemühte sich Jaurès, die Beschlüsse von Basel zu konkretisieren, um einen Weltkrieg zu verhindern. Das Attentat auf den designierten Habsburger-Thronfolger Franz Ferdinand durch einen serbischen Nationalisten in Sarajevo am 28. Juni 1914 und das folgende Ultimatum der Wiener Regierung an Serbien waren für Jaurès Signal genug, der anschwellenden Kriegsstimmung in Mitteleuropa, besonders in Frankreich, entgegenzutreten. Er rief zu Antikriegsprotesten, um eine Politik zur Vernunft zu bringen, die nationalistischem Druck immer mehr nachgab. Europa müsse seine Methoden unbedingt ändern, um nicht in einer „weltweiten Barbarei“ zu versinken. Was Jaurès wollte, ging unter im chauvinistischen Getümmel, nach dem Österreich-Ungarn am 28. Juli Serbien den Krieg erklärt und Russland mit Generalmobilmachung darauf reagierte hatte.
Am Abend des 31. Juli kehrte Jaurès – nach einem allerletzten Zusammentreffen sozialistischer Parlamentarier mit Unterstaatssekretär Abel Ferry im Außenministerium – in die Redaktion der L’Humanité zurück, um den Leitartikel für die Ausgabe vom 1. August 1914 zu schreiben. Um 21 Uhr unterbrach er seine Arbeit, um im Restaurant Le Café du Croissant mit einigen Freunden zu Abend zu essen. Gegen 21.40 Uhr betrat Raoul Villain, ein der rechten Action française nahestehender Nationalist, das Lokal und feuerte aus nächster Nähe zwei Schüsse ab. Jaurès wurde am Kopf getroffen und starb an jenem Marmortisch, an dem er gerade Platz genommen hatte
Der Mörder Raoul Villain, der sich rühmte, eine „patriotische Tat“ vollbracht zu haben, stand erst im März 1919 vor Gericht und wurde von seinen Richtern freigesprochen.
Arno Münster ist emeritierter Professor für Politik und lebt in Nizza
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