Gemeinsam soziale Krankheiten besiegen

Radikale Solidarität ist möglich und damit ein gutes Leben für alle

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„Das Soziale ist die beste Medizin“1 lautete der Vortrag von Ilona Kickbusch im Dezember 2000 auf dem Public-Health-Kongress Armut und Gesundheit in Berlin. Spüren wir den Potenzialen nach, die in diesem Satz verborgen liegen, entdecken wir erste Handlungsanweisungen auf dem Weg zu einer resilienten Demokratie.

Wenn wir gesellschaftlich mitverursachte „Krankheiten“ wie jene der Erwerbslosigkeit vermeiden, lindern oder gar heilen können, warum tun wir es dann so unzureichend? Was hindert uns als staatsbildend-politische Wesen daran, unsere Nächsten, die mitunter auch unsere Geschwister sind oder sein können, mitzunehmen auf unsere Reise zu mehr Wohlstand? Stattdessen schauen wir seit Jahrzehnten zu, wie beispielsweise Vollbeschäftigung als Ziel und Aufgabe österreichischer Bundesgesetze zunehmend missachtet wird.

Das selbe Schicksal ereilt dem Kindeswohl. Irmgard Griss stellte in diesem Zusammenhang am 11. April dJ mit Nachdruck fest: „Das ist eines der großen Probleme, dass wir zwar diese verfassungsmäßig abgesicherten Kinderrechte haben, aber unten bei den Kindern selbst kommt wenig davon an.“2

Bereits nach wenigen Monaten ohne Erwerbsarbeit steigt die Armutsgefährdungsquote3 (S 17) und damit die Wahrscheinlichkeit zu erkranken4 deutlich an. Abgesehen von den psychischen und körperlichen Leiden wird so auch die Abgaben entrichtende Solidargemeinschaft belastet. Zudem kann es passieren, dass Betroffene mitunter in die Obdachlosigkeit gestürzt werden. Diese schreckliche Form sozialer Ausgrenzung muss nicht sein: erfolgreich umgesetzte „Housing First„-Konzepte5 in Finnland zeigen, dass die Gemeinschaft der Steuerzahlenden günstiger damit fährt, Obdachlosen (am besten inklusive) Wohnungen zur Verfügung zu stellen.

Der Kampf für ein verfassungsmäßig geschütztes Kindeswohl im jeweils einzelnen Bescheid und jener gegen eine immer krasser wütende Erwerbslosigkeit können gewonnen werden. Davon würde auch die Mittelschicht profitieren, denn in den letzten Jahrzehnten wurde es „für wachsende Gruppen der Bevölkerung [immer] schwieriger […], dauerhaft Einkommen zu lukrieren, das über das bloße Überleben hinausgeht und gesellschaftliche Teilhabe6 ermöglicht.

Erfolge erzielen werden wir nur gemeinsam. Dazu bedarf es „eines radikalen Konzeptes von Solidarität„, das „geradezu auf Differenzen“ basiert. Radikale Solidarität „setzt voraus, dass es gerade nicht geteilte – ökonomische, kulturelle, politische – Grundlagen gibt und dass dieses Trennende temporär überwunden werden kann.“7 (S 138) Dabei schließen Lea Susemichel & Jens Kastner jene mit ein, die aufgrund der selektiven Responsivität8 in der Gesetzgebung das letzte Wort haben: „An diesem Glauben daran, dass auch mächtige und privilegierte Menschen sich von Dominanzkulturen distanzieren können, müssen wir unbedingt festhalten.“7 (S 140)

Wird diese Sichtweise zur gelebten Praxis in der Zivilgesellschaft, in den Institutionen der Selbstverwaltung und in allen Einrichtungen, die ein gutes Leben für alle anstreben, dann werden wir erfolgreich sein im Kampf gegen soziale Krankheiten.

Anmerkungen

  1. Ilona Kickbusch: Das Soziale ist die beste Medizin. in: Armut und Gesundheit 2000, Dokumentation, Berlin, Verlag Gesundheit 2001
  2. Irmgard Griss im Interview von Martin Thür in der ORF-Sendung Zeit im Bild 2 am Sonntag, 11. 4. 2021
  3. Peter Stoppacher, Manfred Saurug: Armut in der Steiermark eine Bestandsaufnahme in unterschiedlichen Bereichen. Eine Studie im Auftrag des Landes Steiermark, 2018, S 17
  4. Andreas Mielck: „Die kausale Richtung ‚Armut macht krank‚ […] ist für die Erklärung der gesundheitlichen Ungleichheit wichtiger als die kausale Richtung ‚Krankheit macht arm‘ […]“, S 135, in: Soziale Ungleichheit und Gesundheit. Empirische Belege für die zentrale Rolle der schulischen und beruflichen Bildung. Brähler, Elmar [Hrsg.]; Kiess, Johannes [Hrsg.]; Schubert, Charlotte [Hrsg.]; Kiess, Wieland [Hrsg.]: Gesund und gebildet. Voraussetzungen für eine moderne Gesellschaft. Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2012, S. 129-145
  5. Siehe https://kontrast.at/housing-first-finnland-obdachlose
  6. Roland Atzmüller: Prekäre Arbeit, prekäres Leben? https://www.igkultur.at/artikel/prekaere-arbeit-prekaeres-leben, 8. 2. 2019
  7. Jens Kastner, Lea Susemichel: Identitätspolitiken. Konzepte und Kritiken in Geschichte und Gegenwart der Linken. Münster: UNRAST, 2020
  8. Lea Elsässer et al.: „Was Bürger_innen mit geringem Einkommen in besonders großer Zahl wollten, hatte in den Jahren von 1998 bis 2015 eine besonders niedrige Wahrscheinlichkeit, umgesetzt zu werden.“ in: „‚Dem Deutschen Volke‘? Die ungleiche Responsivität des Bundestags“. Z Politikwiss (2017) 27:161–180, S 177
Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Arno Niesner

Die Ränder sind es, die die Mitte stützen und stärken! Das gilt auch in ökonomischer Hinsicht.

Arno Niesner

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