Der Schwanzvergleich am Beginn der Reise lässt keinen Zweifel: Die eine Sache ist groß. Unfassbar groß. Die andere winzig. Es wirkt, als würden die riesigen Tanker und Containerschiffe die Nussschale, die sich in hohem Wellengang an ihnen vorbeistiehlt, gleich erdrücken. Wir befinden uns in den Gewässern vor Gibraltar. Eine Notärztin aus Deutschland – ihren Namen, Rike, entnimmt man erst dem Abspann des Films, ihre Kompetenz als Lebensretterin wird gleich am Anfang bei einem Unfallszenario in ihrer Heimatstadt vorgeführt – ist auf einem Zwölf-Meter-Segelboot unterwegs. Allein. Sie will das Paradies erreichen: Ascension Island, eine britische Exklave im Südatlantik. Der Dschungel der ursprünglich kargen Insel wurde Mitte des 19. Jahrhunderts nach Plänen von Charles Darwin angelegt – ein menschengemachter Garten Eden. Doch die Reise endet, wie der Filmtitel Styx ankündigt, in der Vorhölle.
Die Ärztin hat gerade einem heftigen Sturm getrotzt, als sie sich vor der Küste Mauretaniens in Sichtweite eines Fischkutters wiederfindet. Er ist manövrierunfähig, leck und überfüllt mit Menschen. Verzweifelte Schreie sind zu hören. Bald stürzen sich mehrere Personen ins Wasser, um sich auf das andere Boot zu retten. Ein einziger Junge erreicht die Segeljacht, die zu klein wäre, um alle aufzunehmen. Die Ärztin verständigt die Küstenwache, funkt ein Kreuzfahrtschiff in der Nähe an, drängt wiederholt auf Hilfe, wartet selbst in ratloser Entfernung. Nichts passiert.
Stumme Kajüte
Styx ist ein stummes Kammerspiel in der Kajüte. Im Kinosaal ist man die meiste Zeit gemeinsam mit der Hauptfigur (Susanne Wolff) dem beengten Raum und der Einsamkeit auf ihrem Boot ausgesetzt. Später kommt ein einzelnes Gegenüber dazu, ein afrikanischer Teenager im Ronaldo-Trikot (Gedion Oduor Wekesa). Er kann ein wenig Englisch, doch es wird kaum gesprochen. Es ist diese extreme Reduktion im Zusammenspiel mit einer quasidokumentarischen und doch lyrischen Bildsprache, durch die der Film seine Wirkung entfaltet: einen Thriller-haften erzählerischen Sog und eine allegorische Wucht.
Regisseur Wolfgang Fischer hat sich für eine Parabel entschieden, anstatt beispielhaft Einzelschicksale zu erzählen. Mit seiner Co-Autorin Ika Künzel arbeitete er jahrelang an der Entwicklung des Stoffs. Die Idee stammt noch aus der Zeit vor dem sogenannten Willkommensjahr 2015, vor der behaupteten „Schließung der Mittelmeerroute“, vor der 2017 einsetzenden Kriminalisierung von zivilen Rettungseinsätzen, die nach dem Amtsantritt der aktuellen italienischen Regierung noch deutlich verschärft wurde. Styx spielt im Atlantik, wo Menschen versuchen, über die Kanarischen Inseln die EU zu erreichen. Gedreht wurde großteils auf hoher See zwischen Malta und Sizilien, das gesamte Filmteam auf einem Zwölf-Meter-Boot.
Dem westlichen, kolonial belasteten Blick zu entkommen, ist die entscheidende Herausforderung für jeden Film, der von Europa aus die Flüchtlingsthematik behandelt. Wolfgang Fischer entscheidet sich für eine bequeme, aber auch schlüssige Haltung: Er versucht es erst gar nicht. Styx lässt in keiner Sekunde Missverständnisse darüber aufkommen, aus welcher Perspektive der Film erzählt: durch das Auge einer gebildeten, rational agierenden deutschen Touristin. Er maßt sich nicht an, ein Flüchtlingsschicksal durch die europäische Brille nachzuempfinden. Was nachempfunden wird, ist die Ratlosigkeit und Lähmung der Hauptfigur im Angesicht des Unfassbaren.
Unglaublich an Styx ist, wie gut das als Film funktioniert, woran neben der Präsenz und Performance von Susanne Wolff der Kameramann Benedict Neuenfels entscheidenden Anteil hat. Verknappt wie die Figurenkonstellationen sind auch die Räume. Neuenfels zeigt das Segelboot wiederholt im Verhältnis zum endlosen Horizont und eben auch zu Monsterfrachtschiffen. Dabei verstärken die Supertotalen nur den klaustrophobischen Gesamteindruck. Der Gegensatz von immenser Weite und oft poetisch angeschnittenen Einstellungen aus nächster Nähe läuft auf dasselbe hinaus: Das Große lässt sich nicht fassen, und zugleich ist man zu nah dran, um noch irgendwas im Sinne eines Verständnisses ins Bild zu bekommen. Das Meer ist grandios und grausam und unverständlich.
Styx, das „Wasser des Grauens“, der Grenzfluss zwischen dem Reich der Lebenden und der Toten in der griechischen Mythologie, weitet sich hier zu ozeanischen Dimensionen. Das Wasser ist Ort und labiler Grund des Geschehens, Horizont, alles bestimmende Naturgewalt, aber auch winzige, in PET-Flaschen gepresste Überlebenshoffnung. Schwimmt Wasser überhaupt in Wasser? Der afrikanische Junge versucht es, als er die Trinkwasservorräte des Segelbootes in Richtung des sinkenden Fischkutters schleudert.
„I have no answers for you“, sagt die Notärztin kurz vorher. Styx ist kein Film, der Erklärungen liefert, Hintergründe und Zusammenhänge aufzeigt, Schicksale beleuchtet. Er will keine Antworten geben. Er will sein Publikum ins kalte Wasser stoßen. Und das tut er mit physischer Kraft. Allein schon Susanne Wolff beim Zupacken an Segeln, Leinen und Kurbeln zuzusehen, hat etwas Fesselndes. Als die Ärztin den Jungen an Bord holt, gipfelt der Körpereinsatz von Wolff und ihrem jungen nigerianischen Partner Gedion Oduor Wekesa in einer kampfgleichen Choreografie vom Menschen mit den Elementen. Man kann die Verzweiflung fast greifen. Großes Kino.
Info
Styx Wolfgang Fischer Deutschland, Österreich 2018, 94 Min.
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