Die Kneipe an der nächsten Straßenecke heißt „Lass uns Freunde bleiben“. Das passt, geht es doch in allen Filmen von Sebastian Schipper um dieses Thema.Im Büro seiner Filmproduktionsfirma in der Zionskirchstraße in Berlin-Prenzlauer Berg brüht der Regisseur einen Darjeeling auf. Morgens aufstehen, Tee trinken, schreiben – „Das ist the shit“, sagt der 51-Jährige.
der Freitag: Herr Schipper, vor drei Wochen war Ihr 51. Geburtstag. Wie haben Sie gefeiert?
Sebastian Schipper: An dem Tag war die Berlin-Premiere meines neuen Films Roads, daher waren sowieso viele Freunde da. Wir haben bei mir gefeiert, bis die Polizei das dritte Mal da war. Es war wahnsinnig laut, weil mein junger französischer Hauptdarsteller Stéphane Bak aufgelegt hat. Eines seiner großen Talente ist, eine Party wirklich zum Tanzen zu bringen.
Erinnern Sie sich auch an Ihren 18.?
Da war ich Austauschschüler in Kalifornien, in Fresno, was ein ziemliches Kaff ist. Sehr staubig und heiß, nicht besonders glamourös. Dort habe ich aber ein tolles Jahr verbracht.
Was haben Sie da so getrieben?
Ich habe Englisch und Autofahren gelernt und das erste Mal in meinem Leben gekifft. Und zwar mit einem Kumpel, der vielleicht immer noch der beste Freund von mir ist. Ein anderer Freund von damals ist mittlerweile Rabbi in New Jersey. Als Roads vor einigen Wochen seine Weltpremiere beim Tribeca Film Festival von Robert De Niro feierte, ist er nach New York gekommen. Wir sind sechs Stunden lang durch die Stadt gelaufen. In den letzten zehn Jahren hatte ich ihn vielleicht einmal gesehen. Es ist erstaunlich, wenn man zu bestimmten Leuten so eine Verbindung hat, dass man aus dem Stand sechs Stunden irgendwo langschlendern und sich unterhalten kann.
Worin besteht so eine Bindung?
Darin, dass man sich noch etwas zu sagen hat. Auch im Jetzt und nicht nur: „Ey, weißt du noch?“ Erstaunlicherweise habe ich das in sechs Stunden kein einziges Mal gesagt. Wir haben mehr darüber gesprochen, was sein Leben jetzt ausmacht, wie es ist, Rabbi zu sein. Vielleicht hat er es auch genossen, dass ihn jemand nicht hauptsächlich als Rabbi wahrnimmt, sondern erst mal als Freund, der eben Rabbi geworden ist. Und er wollte wissen, was mein Leben als Filmemacher ausmacht.
Wie haben Sie es ihm erklärt?
Film hat natürlich diese Aspekte von Entertainment, Kamera, Musik, Schauspiel. Aber ich glaube, dass dahinter auch philosophische, quasitheologische Elemente stecken. Religion und Philosophie sind ja entstanden, damit wir uns einen Reim auf das Leben machen. Ihr Ursprung ist, dass man sich eine Geschichte erzählt und gemeinsam Gedanken darüber macht, was der Sinn dahinter sein könnte. Auf der Ebene kann ich mich mit meinem Freund total gut unterhalten, weil er seinen Beruf auch durch das Erzählen von Geschichten ausübt.
Sie setzen mit Ihrer Arbeit da an, wo das Nachdenken über den Sinn des Lebens beginnt.
Ich suche etwas, das mich interessiert, aber auch verunsichert. Am stärksten war das, als ich Victoria gedreht habe, in einer Mischung aus hirnrissiger Idee und Akt der Verzweiflung. Ich hatte das Gefühl, dass ich unbedingt einen Film machen muss, der mit meinem monologischen Gespräch, meinen Gedanken und Meinungen über Film auf Augenhöhe ist. All diese Begriffe, die ständig für alles benutzt werden – spontan, radikal, intuitiv, rücksichtslos, kreativ –, meistens um Haarshampoo oder eine Autoversicherung zu verkaufen, was ist, wenn man die ernst nimmt? Daraus ist Victoria entstanden.
Der Film wurde in einer einzigen, zweieinhalb Stunden langen Einstellung gedreht. Eine durchaus sportliche Herausforderung, bei der man vieles nicht planen kann, oder?
Ich habe zum ersten Mal gemerkt, wie sehr mich so eine Ambivalenz reizt. Wie stark es ist, wenn man sich ganz doll zu etwas hingezogen fühlt und zugleich ganz doll Angst davor hat. Bei Roads ist das ähnlich. Ich lag wieder mindestens so viele Nächte wach und dachte: Um Gottes willen! Da kann ich ja nur scheitern, mit dieser Idee, einen Film über Migration zu machen und nicht nur zu wiederholen, was wir aus den Medien alles schon kennen. Ich wollte einen Film, der von dem Wunder erzählt, jemand anderem wirklich zu begegnen. Die Definition eines Wunders ist ja, dass einem Gott direkt begegnet und zu einem spricht. Aber theologisch gesehen begegnet er einem immer in den anderen. Das ist ein Wunder – ohne verbrämt klingen zu wollen. Trotzdem wollte ich einen Film über zwei 18-Jährige machen, die mit einem geklauten Auto durch Europa fahren.
Fremdgehen, Kumpelnächte, Roadtrips
Beziehungskisten sind es, die ihn beschäftigen – als Schauspieler und auch als Regisseur. Sebastian Schipper wurde 1968 in Hannover geboren und ist im niedersächsischen Oldenburg aufgewachsen. Er spielte in Filmen namhafter Regisseure wie Sönke Wortmann, Tom Tykwer, Romuald Karmakar und Anthony Minghella mit. Nach dem Schauspielstudium an der Münchner Otto-Falckenberg-Schule (1992 – 1995) übernahm er neben seinem Engagement an den Münchner Kammerspielen kleinere Rollen in Kinofilmen wie Kleine Haie (1992), Der englische Patient (1996) oder Winterschläfer (1997).
Tom Tykwer engagierte ihn für Drei (2010), in dem ein kinderloses Mittvierziger-Paar nur noch nebeneinanderher lebt: Beide gehen fremd, Schipper und Sophie Rois, und verlieben sich dabei in denselben Mann.
1999 debütierte Schipper als Regisseur, mit seinem Film Absolute Giganten. Der Film erzählt von drei jungen Hamburgern, die das letzte Mal gemeinsam die Nacht durchmachen. Schipper erhielt dafür den Deutschen Filmpreis in Silber. Um Freundschaft ging es auch in Ein Freund von mir (2006). 2010 war er mit Mitte Ende August auf der Berlinale vertreten und triumphierte 2015 mit seiner vierten Regiearbeit Victoria. Dafür bekam er erneut den Deutschen Filmpreis und den Silbernen Bären (Kamera). 2018 kritisierte Sebastian Schipper in einem Interview mit Spiegel Online den Regisseur Dieter Wedel, dem sexuelle Belästigung vorgeworfen wird, als eine „gefährliche Witzfigur“.
Der neue Film Roads kommt am 30. Mai 2019 in die Kinos, manche Szenen sind inder Nähe von Calais gedreht worden.
Beim ersten Zusammentreffen dieser künftigen Freunde wird eine klare Hierarchie deutlich: Der Junge aus Europa sitzt auf dem Dach eines Campers, der Junge aus Afrika steht unten auf der Straße.
Der oben auf dem Dach ist ein lässiger Vogel, der sich gar nicht als höhergestellt wahrnimmt. Aber das entscheidet man nicht individuell, das ist die Rolle, die einem zugeteilt wird. Er ist privilegiert. Er hat das Wohnmobil seines Stiefvaters geklaut und fährt ohne Führerschein durch Marokko. Machen wir uns nichts vor: Das Schlimmste, was ihm passieren kann, ist, dass er zu Hause richtig Ärger kriegt. Das Risiko des Jungen aus dem Kongo ist ein ganz anderes.
Es geht um sein Leben.
Im Moment ihrer größten Einsamkeit treffen die beiden als komplette Aliens aufeinander. Auf ihrer gesamten Reise durch Europa gibt es keine zwei, die weiter entfernt voneinander sind, und trotzdem kommen sie sich immer näher.
Da sind auch Liebe und Homoerotik im Spiel. Einmal fallen die beiden übereinander her, wie in einer gewalttätigen Umarmung. Sie wehren sich mit Händen und Füßen gegen ihre Gefühle.
Eine homoerotische Beziehung ist es für mich nicht. Liebe? Da kann man unterschiedlicher Meinung sein. Aber eine romantische Liebesbeziehung ist für mich eine andere Kategorie, sie funktioniert nach anderen Regeln.
Freundschaft ist wichtiger?
Sie ist frei von Zielen und von irgendeiner Art von Wertschöpfung. Mit Kollegen, Nachbarn, der Familie, in einer romantischen Liebesbeziehung gibt es klar formulierte Ziele. Mit den Nachbarn will ich mich verstehen, mit der Familie Zeit verbringen, ohne dass es Streit gibt, mit meinem romantischen Partner mein Leben planen. Bei Freunden ist das anders, viel luftiger. Nicht weniger ernst, aber Freunde sind soul mates, da gibt es kein pay-off. Ich werde nicht erfolgreicher, ich habe keinen tollen Sex. Ich verbringe einfach Zeit mit jemandem, dessen Meinung und Gegenwart ich schätze. Liebe kommt im Vokabular von Freundschaft durchaus vor. Aber romantische Liebe ist es für mich nicht.
Glauben Sie wirklich, alle Menschen würden Freundschaften und Netzwerke pflegen, auch wenn da nichts zu holen ist?
Netzwerke sind keine Freundschaften, das sind Bekannte. Ich bin manchmal auf die Kollegen aus Berlin-Neukölln neidisch, in deren Vokabular es noch den Begriff „Bruder“ gibt. Das, wovon ich hauptsächlich erzähle, sind sozusagen selbst gewählte Brüder.
Wie sähe denn eine romantische Komödie von Ihnen aus?
Ich würde ja gerne eine machen. Aber das ist wahnsinnig schwer zu schreiben. Und die Frage müsste sein: Wo liegt das Risiko? Nur als Beispiel: Vier Hochzeiten und ein Todesfall, da macht schon der Titel klar, dass Intimität und Nähe auch Tod bedeuten können. Aber ich habe keine Ahnung, wie so eine Romcom bei mir aussehen würde.
Sie haben von der theologischen Dimension von Filmen und Geschichten geredet.
Wenn ich eine Sache benennen sollte, die den Mensch vom Tier unterscheidet, würde ich sagen: Wir erzählen uns Geschichten. Über das, was war, und über das, worauf wir hoffen. Das ist Magie. Das ist es, was ich am Kino am meisten liebe. Es muss einfach sein, im Zweifelsfall wie ein blöder Witz. Ich betrachte mich nicht als Philosophen oder Theologen. Mir gehen Filmemacher, die das denken, in 99 von 100 Fällen auf den Keks. Ich mag es, wenn’s einfach ist. Das reizt mich. Was man daraus macht, wenn man hinterher zusammen noch ein Bier trinkt, das steht noch mal auf einem anderen Blatt.
In einer Master Class vor Filmstudenten sprachen Sie vor einigen Jahren nur über Ihr Zerwürfnis mit einem engen Freund, der auch Produzent Ihres Films war. Geht es für Sie beim Film vor allem darum, mit Beziehungskisten fertigzuwerden?
Ich habe diesen jungen Filmemachern gesagt: Ihr müsst mit Frustration klarkommen. Das ist ganz wichtig. Bei Filmen geht’s um viel Geld, das heißt, man muss eine irgendwie geartete soziale Kompetenz haben. Und die hat damit zu tun, Kränkungen und Enttäuschungen auszuhalten und nicht zu verbittern, nicht nach innen hin immer säuerlicher zu werden, sondern sich Konflikten zu stellen, offen zu bleiben, sich nicht zu vermauern. Filmemachen ist immer Teamwork. So wichtig es ist, eine Vision zu haben und an etwas zu glauben, so wichtig ist es auch, solche Verwundungen zu überleben.
Dinge, bei denen man nicht scheitern kann, reizen Sie nicht so?
Also die Möglichkeit gibt’s ja immer, darum muss man sich keine Sorgen machen. Weil alles so kompliziert ist, dass man sowieso scheitern wird. Das Schlimmste ist – und das ist etwas, das ich Filmschülern, aber auch mir selbst gerne immer wieder ins Bewusstsein rufen würde –, kein Mensch kommt aus dem Kino und sagt: „Der Film hat mir wirklich gut gefallen. Die haben gar keine Fehler gemacht.“ Darum geht’s nicht.
Worum dann?
Ich möchte etwas Faszinierendes erschaffen, etwas, das es wert ist. Das ist fucking schwer. Ich möchte auf die richtige Art und Weise einRisiko eingehen. Damit etwas entsteht, das sich selbst und dem Leben und dem Filmemachen abgerungen ist. Werner Herzog hat für Fitzcarraldo ein verdammtes Schiff über den Berg ziehen lassen, und zwar in echt. Man merkt, dass das nicht aus Pappe ist – oder computergeneriert.
Was könnte Ihr Schiff sein? Eines haben Sie mit „Victoria“ ja schon über den Berg gezogen.
Mit Roads einen Film über das Thema Migration zu machen ist für mich auch so ein Schiff. Das hat mich sehr beeindruckt und verängstigt.
Ihr erster Film als Regisseur, „Absolute Giganten“, liegt jetzt 20 Jahre zurück. Die drei Freunde, um die es darin geht, bestellen morgens in einer Fast-Food-Filiale: „Dreimal alles!“ Was würden Sie heute nehmen?
Oh, ich weiß nicht. Alles ist gut. Ich habe eine tolle Beziehung. Ich fühle mich sehr glücklich in meinem Beruf. Ich habe bei Roads zum ersten Mal mit einem anderen Autor zusammengearbeitet, Oliver Ziegenbalg, eine tolle Erfahrung. Ich habe hier in meiner Produktionsfirma einen tollen Geschäftspartner, Felix Eisele. Das fühlt sich sehr, sehr, sehr gut an. Nach all der Zeit, in der ich Filmemachen als one-man army betrieben habe, bin ich wahnsinnig glücklich, nicht mehr alles allein zu machen, sondern im Team.
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