Gleicht das Berlin von 1929 wirklich dem von heute? Und wenn ja, was heißt das für die nächste Zukunft? Burhan Qurbani hat Alfred Döblins expressionistischen Großstadtroman Berlin Alexanderplatz neu verfilmt. Aus Franz Biberkopf wurde dabei Francis, den es aus Westafrika in die deutsche Hauptstadt von heute verschlägt. Und dennoch ist in Qurbanis Film auch Platz für Utopie.
der Freitag: Herr Qurbani, am 6. Juni 2020 protestierten 15.000 Menschen auf dem Berliner Alexanderplatz mit minutenlangem Schweigen gegen Rassismus und Polizeigewalt. Was empfanden Sie angesichts der Bilder dieser Demonstration?
Burhan Qurbani: Ich war selbst dabei und trug in einer seltsamen Paranoia gleich zwei Masken. Es ist unglaublich, dass in Zeiten, in denen die Welt wortwörtlich stillsteht, eine globale Bewegung aufkommt, bei der Hunderttausende Menschen auf die Straßen gehen. So beschissen die Situation auch ist und so wenig man den Rassismus damit auslöschen kann, so sehr macht mir das Hoffnung, dass da etwas entsteht, das im besten Fall auch nachhaltig wirkt. Nicht nur die Bilder sind eindrücklich, sondern die Tatsache, wie sehr das Thema die Menschen beschäftigt. Das zeigt, dass wir sensibel sind für eine Sache, die mich als Person of color und Sie als Weißen zusammenbringt.
Der Schauplatz dieser Demonstration steht im Zentrum Ihres neuen Films. In Ihrer Kinoversion von Alfred Döblins Roman „Berlin Alexanderplatz“ geht es um Francis alias Franz, dargestellt von Welket Bungué, der nach seiner Flucht von Westafrika über das Mittelmeer in der deutschen Hauptstadt landet. Verändern die aktuellen Ereignisse Ihre Erwartungen an den Film?
Er wird durch diese Sensibilisierung noch mal ganz andere Fragen aufwerfen. Das Publikum wird ihn kritischer anschauen. Es gibt ja nicht so viele Filme in Deutschland, in denen schwarzafrikanische oder afrodeutsche Menschen die Hauptrolle spielen. Es ist also weniger mein Anspruch gestiegen als der Anspruch der Zuschauer, die den Film anders werten werden. Ich begrüße das, selbst wenn es zu Kontroversen führen sollte. Genau das muss momentan passieren: Wir müssen uns politisieren und mit einem neuen Blick auf die Medien schauen, die wir konsumieren.
In einer Szene erklärt eine Freundin von Franz, die afrodeutsche Eva, wie die Gesellschaft in Deutschland nach Schwarz und Weiß sortiert wird.
Das war einer der ersten Monologe, die ich für das Drehbuch geschrieben habe, und für mich eine der persönlichsten Szenen. Eva erklärt, dass sie zwar in Deutschland groß geworden und weiß geprägt ist, aber letztlich immer als Schwarze gesehen wird. Dass sie auf ihre Hautfarbe reduziert oder nur durch ihre Hautfarbe hindurch angeschaut wird. Mein Phänotyp ist auch nicht biodeutsch. Ich werde die meiste Zeit als Südostasiate gesehen, obwohl meine Familie aus Afghanistan kommt. Trotzdem werde ich immer wieder in diese Zwickmühle gedrängt: Was bist du eigentlich? Bist du deutsch? Oder bist du der Afghane? Wie ordnest du dich ein? Ich habe Eva also Worte in den Mund gelegt, die für mich als Person of color wichtig waren.
Die Grundidee für Ihre Verfilmung von Döblins Roman ist so einfach wie einleuchtend: Franz Biberkopf wird zum Migranten und Kleindealer, das Berlin von 1929 wird zum Berlin 2019. Als Zukunftsprognose weiter gedacht, ist das aber sehr düster. Müssen wir 2023 mit Faschismus rechnen?
Ich arbeite seit fast einem Jahr an einem neuen Stoff. Es ist absurd, schrecklich, zum Kotzen, aber dabei geht es um einen Lynchmord an einem Flüchtling in Deutschland. Ich glaube, als Filmemacher und Zoon dramatikon, also als dramatisches Wesen, denkt man immer in Worst-Case-Szenarien. Wenn man sich tagesaktuell und langfristig mit Politik beschäftigt, spielt man Dinge durch, die im schlimmsten Fall wahr werden – und im besten Fall durch die eigene Arbeit vielleicht verhindert werden können, als ein Spiegel der Gesellschaft.
Sehen Sie denn viele Parallelen zwischen 1929 und 2019?
Berlin Alexanderplatz wurde von Döblin in den letzten Zügen der Demokratie geschrieben, kurz vor dem Ende der Weimarer Republik, mit dem Dritten Reich, das am Horizont hoch kam. Uns war schmerzhaft bewusst, dass auch heute die Demokratie in Deutschland extrem fragil ist. Ob es nun um Protofaschisten in Frankreich, Ungarn, Russland, Amerika oder der Türkei geht – das ist ein Thema, mit dem sich unsere Generation auseinandersetzen muss und mit dem wir als Filmemacher, Geschichtenerzähler, Journalisten in drei Jahren vielleicht am meisten arbeiten müssen: immer stärker werdende anti-demokratische Bewegungen, autoritäre Staatenlenker, große anti-intellektuelle Bewegungen.
Zur Person
Burhan Qurbani geboren 1980 in Erkelenz. Er studierte an der Filmakademie Baden-Württemberg. Sein Abschlussfilm Shahada (2010) lief im Wettbewerb der Berlinale. In Wir sind jung. Wir sind stark (2014) erzählte er von den Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen 1992
Zu Ihrem Spielfilm „Wir sind jung. Wir sind stark“ über die Ausschreitungen in Rostock-Lichtenhagen im Sommer 1992 sagten Sie vor ein paar Jahren: „Das kann jederzeit wieder passieren.“ Nur einige Tage vor der Premiere von „Berlin Alexanderplatz“ bei der Berlinale 2020 wurden in Hanau neun Menschen aus rassistischen Motiven ermordet.
Jede Generation glaubt, in den schlimmsten aller Zeiten zu leben. Dass die Berlinale unter diesem Schatten anfing, war furchtbar und erschreckend und verstörend. Aber ich will den Glauben an eine gesunde demokratische Zivilgesellschaft nicht verlieren. Deswegen versuche ich mit meinen Filmen gegen solche Entwicklungen zu arbeiten.
Ihr Film beginnt auf der Tonspur: Bevor auf der Leinwand etwas zu sehen ist, hört man einen Menschen atmen, schwer und immer heftiger ...
Mein Sounddesigner Michael Schöpping meinte: Wenn wir die Geschichte einer Person erzählen, die auf der Flucht ist, dann erzählen wir von jemandem, der ständig außer Atem ist. Tatsächlich haben wir das Thema auch musikalisch aufgegriffen. Die Filmmusikerin Dascha Dauenhauer hat Atemgeräusche in Songs verwandelt. Außer-Atem-Sein ist definitiv ein Thema, das wir auf der Klangebene behandelt haben. „I can’t breathe.“
Ergeben sich Anspielungen wie die auf George Floyds Tod durch Polizeigewalt zufällig oder zwangsläufig, wenn man sich in seiner Arbeit mit Rassismus beschäftigt?
Ich wünschte, ich könnte sagen, dass man das geplant hat. Hat man natürlich nicht. Es gibt eine Blackbox in unserem Unterbewussten, in die vieles Eingang findet, vor allem, wenn man kreativ arbeitet. Und ohne dass man genau weiß, wie es verarbeitet worden ist, kommt es irgendwo wieder raus. Gerade bei einem über dreieinhalb Stunden langen Film spürt man schon beim Machen und auch später in der Postproduktion, dass sich Themen eingeschlichen haben, die man in der ersten Konzeption gar nicht antizipiert hatte. Diese Dinge werden unterbewusst eingebaut.
Der Franz Biberkopf in Döblins Roman ist eine passive Figur. Er handelt nicht, mit ihm wird gehandelt. Das macht die Geschichte ziemlich ausweglos. Aus Angst vor Zensur wurde der ersten Verfilmung von 1931 aber eine Art Happy End ins Drehbuch geschrieben. Ist der Fatalismus des Romans dem Kinopublikum nicht zumutbar?
Nachdem wir acht Monate lang am Schnitt saßen, hatten wir zwei Enden. Bei dem einen Ende kommt unser Franz aus dem Knast auf die Straße, er hört die Wellen des Mittelmeers wieder über sich zusammenschwappen, hält sich die Ohren zu – und wir sind quasi in der ersten Szene des Romans: Franz Biberkopf kommt aus dem Gefängnis, erträgt den Lärm der Großstadt nicht, und ...
... es geht von vorne los.
Genau. Das wäre ein Schlusspunkt gewesen, der im Magen liegt, das filmisch elegantere Ende. Aber ich habe immer den Schluss mit einer unerwarteten Wendung verteidigt, weil ich meine: Wir können die Geschichte von einem Zuflucht Suchenden in Deutschland in unserer Zeit nicht erzählen, ohne eine Utopie zu setzen. Ob das elegant ist oder nicht, war mir an diesem letzten Schnitttag total egal. Weil ich dachte: Ich brauche einen Stinkefinger. Gegen die AfD, gegen diesen widerlichen Populismus, der Flüchtlinge stigmatisiert und ihnen die Möglichkeit des Ankommens verweigert. Das war für mich eine politische Entscheidung, keine filmische.
Die Vision einer anderen Gesellschaft zieht sich wie ein Leitmotiv durch Ihren Film. „Neue Welt“ heißt zum Beispiel der Club, in dem die transsexuelle Berta verkündet: „Wir sind die neuen Deutschen: die Transe, die schwarze Amazone, der einarmige Bandit.“
Ich halte das für den gefährlichsten Satz im ganzen Film. Vorher gibt es eine Szene, in der mein Hauptdarsteller Welket Bungué ziemlich provokant sagt: „Ich bin Deutschland.“ Das ist kraftvoller, mehr auf die Fresse. Aber ich finde den Satz „Wir sind die neuen Deutschen“ gefährlicher. Bei Franz bleibt es in dem Moment noch eine Behauptung, er ist noch nicht wirklich angekommen. Er verkauft damit ein Modell vom westlichen Ideal, aber nur, um die Leute auf einen Abweg zu führen. Die Ansage von Berta ist reiner, klarer. Sie sagt: Die Definition, was ich bin, überlasse ich nicht anderen. Ich definiere mich selbst. Und ich definiere mich als eine neue Deutsche.
Sehen Sie diese Sätze als ein Echo auf die Parolen aus Rostock-Lichtenhagen, die auch in Ihrem letzten Film skandiert wurden: „Deutschland den Deutschen“?
Jetzt, wo Sie das sagen ...
Beanspruchen Sie die Ansage auch für sich? Sind Sie Deutschland?
Absolut. Natürlich, wir sind Deutschland. Es geht mir um einen ultimativen Anspruch. So wie Björn Höcke vereinnahmend „wir Patrioten, wir biodeutschen Steuerzahler“ sagt und alle anderen ausgrenzt, auch den Studenten und den politisch Aktiven, der am Existenzminimum lebt – die gehören bei Höcke nicht dazu. Diesen ultimativen Anspruch will ich ihm wegnehmen: Nee du, ich bin Deutschland. Weil ich mich dafür entschieden habe und weil die Definition nicht bei dir liegt, sondern bei mir. Burhan ist in Deutschland geboren und aufgewachsen und darf diesen Anspruch geltend machen. Weil wir in einer Einwanderungsgesellschaft leben. Weil 20 Prozent der Menschen hier einen migrantischen Hintergrund haben. Und weil die Definition nicht bei der AfD liegt, sondern bei mir. Bei uns als Community und als Zivilgesellschaft.
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