Im Anfang war der erhobene Zeigefinger. Marmorn und weiß vor schwarzem Hintergrund. Dann kommt das Wort. Man denkt mit den fünf Fingern, erklärt jemand vernuschelt aus dem Off, während auf der Leinwand die Hand einer Statue zu sehen ist. Es ist die Stimme von Jean-Luc Godard, des 1930 geborenen, einflussreichsten Filmemachers der Nouvelle Vague. Er hat den Kommentar für die deutsche Fassung seines neuen Films Bildbuch eigens selbst eingesprochen.
Die Tonmischung sei noch nicht final, erklärt der junge Mann dem nicht ganz so jungen Publikum bei der Pressevorführung vorab. Man müsse sich die diversen Tonspuren beim fertigen Film über 7.1-Kanal komplett surround im Raum verteilt vorstellen. „Dislozierung“, sagt er – eines der Godar
11; eines der Godard‘schen Zauberworte. Es ist Teil der V-Effekt-Formel, die seit den Sechzigerjahren zum revolutionären Programm des Schweizer Regisseurs gehört: das Kino als Kino vorführen, die Bilder als gemacht, die Zuschauer vor den Kopf und gegen die Leinwand stoßen, mit Konventionen und Illusionen brechen. Kurz: Film als Verzauberungsmaschine demaskieren und trotzdem daran glauben.Godard führt das mit Bildbuch in Form einer Collage aus Filmszenen, TV-Nachrichten, Literaturzitaten und poetisch-theoretischen Überlegungen vor, die an seine Histoire(s) du cinéma anknüpft. Er reflektiert auch die eigenen Verfahren, um so seinen Be-Griff und unser Be-Greifen der Welt zu fassen. „Mit den Händen zu denken, ist die wahre Bestimmung des Menschen“, sagt er. Nur wie macht man das im haptisch so impulsarmen Bildraum des Kinos? Godard gibt, wie immer, keine eindeutige Antwort. Er gibt Anregungen.Seine Bildcollage funktioniert nicht als Fluss. Sie wirkt im Gegenteil darauf angelegt, gerade keinen Sog zu erzeugen. Der Rhythmus der Montage ist durchgängig behäbig, die Aneinanderreihung arbeitet mit Lücken. Durch hin und her springende Bildränder wird bis zum Überdruss betont, dass Formate wie 1.33:1 nur Konventionen sind, Rahmungen, die notwendig abschneiden, auslassen und verzerren.Die Kamera ist ein GewehrDie Bilder sind den fünf Fingern folgend in assoziativ beziehungsweise erratisch benannte Kapitel gegliedert. Zwischen ihnen ergeben sich immer wieder Kongruenzen, in denen cinematografische Erinnerung und dokumentarische Bildfetzen übereinstimmen. Wer stellt hier wen nach? Wie verhalten sich Hinrichtungen in Roberto Rossellinis Paisà zu jenen in Propagandavideos des sogenannten Islamischen Staats? Wie Gus van Sants Elephant über das Columbine-Massaker und Pier Paolo Pasolinis Salò über die Schlachtmaschinerie des Faschismus zur Berichterstattung über Krieg und Gewalt in den Medien?Das Bildbuch lässt im Social-Media-Zeitalter natürlich auch das „Gesichtsbuch“ anklingen. Godards Film kommt in die Kinos, nachdem die seit den Neunzigerjahren virulente ikonische Wende eben erst in fürchterlichen Bildern kulminierte: in der Live-Übertragung des Massakers von Christchurch durch den Täter. Die gewaltvollste Bilddarstellung und Bildwirkung, die man sich nie vorzustellen wagte. Dazu die Ahnung, dass eine solche Untat in Kamera und Bildschirm ihre zentralen Komplizen hat, ohne die sie möglicherweise nicht verübt worden wäre. In der Cinémathèque française in Paris ist ein „fusil chronophotographique“ des Erfinders Étienne-Jules Marey aus dem Jahr 1899 ausgestellt, eine Filmkamera in Gewehrform.Godard wiederholt dieses Grundthema, indem er auch seiner Bildauswahl Gewalt antut. Die Farben sind krass übersättigt. Der Kontrastregler wird so auf Anschlag gestellt, dass die Bildhintergründe oft in kompletter Über- oder Unterbelichtung verschwinden: eine Kontextbereinigung. Manchmal hat man den Eindruck, da will jemand mit unbeholfenen manipulativen Mitteln untersuchen, ob in den Bildern noch versteckte Schichten zu finden sind. Und er macht sie kaputt dabei.Trotz der Analogien ist deswegen Dissoziation mindestens genauso wichtig. Möglicherweise geht es diesem Bildbuch um die Beweisführung, dass so etwas wie ein „kulturelles Gedächtnis“ eine Lüge ist. Oder mindestens eine Selbsttäuschung.Der Titel Bildbuch täuscht darüber hinweg, wie wichtig die akustischen Ebenen des Films sind. Es dominiert der erwähnte, vom Meister persönlich auf Deutsch eingesprochene Kommentar, ein assoziativ-dissoziatives Sampling aus diversen Literaturquellen und Filmdialogen. Godard spricht mit wenig Kraft in der 88-jährigen Lunge, eher um ein atmosphärisches Raunen und Krächzen bemüht als um Verständlichkeit. Doch seine Sprechposition wird akustisch klar verortet. Man stellt sich einen ausrangierten Fabrikschlot vor, vielleicht auch eine Abstellkammer oder den unbeheizten Abort eines kurz vor der Sanierung stehenden Altbaus mit überhohen Decken.Während der Bildreigen vor sich hin ruckelt, dreht das Sounddesign gegen Ende richtig auf. Es gibt mehrfache Überlagerungen von Bedeutsamkeiten, die sich gegenseitig sabotieren und in gigantischem, auf einer 7.1-Surround-Anlage bestimmt grandios disloziertem Rauschen kulminieren.Mitten im Film steht einmal plötzlich Sterling Hayden als Johnny Guitar da, mit dem Rücken zur Kamera. Wir schauen über seine Schulter, und wir sind es also, die mit seiner Stimme von der schönen, strengen Joan Crawford fordern: „Lüg mich an!“ Und das tut sie.Placeholder infobox-1