Eine verschwindend geringe Anzahl der Neugeborenen kommt mit einem Schwanz auf die Welt. Einem wurmartigen Fortsatz der Wirbelsäule, der meist ohne viel Aufhebens in den ersten Lebenstagen operativ entfernt wird. Eine Identitätsverfälschung? Ein Übergriff der normfixierten Medizin, die besondere Eigenschaften eines neuen Geschöpfs mir nichts, dir nichts zurechtstutzt?
Ali Abbasis Film Border wirft viele Fragen auf, darunter auch diese. Allerdings ist er keiner der derzeit beliebten, kämpferischen Sachfilme, die sich mit Impfzwang oder Kindererziehung beschäftigen. Der zweite Spielfilm des aus Teheran stammenden Regisseurs – eine schwedisch-dänische Koproduktion, in Cannes 2018 mit dem Preis der Sektion „Un Certain Regard“ ausgezeichnet – ist ein sozialrealistischer Krimi, eine Liebesgeschichte und zugleich auch Horror und Fantasy. Auf jeden Fall kein Film, der auf den Problem-Doku-Trend aufspringt. Dafür aber auf den Skandinavien-Grusel-Trend à la Let The Right One In von Tomas Alfredson. Die Literaturvorlagen für beide Filme stammen vom selben Autor, John Ajvide Lindqvist.
Tina, die Protagonistin in Border, springt gerne barfuß durch den Wald. Sie legt sich ins Moos, liebkost Insekten, grüßt nachts den Elch, der bei ihrem abgelegenen Haus vorbeischaut, wie einen alten Bekannten: „Hi!“ Die Natur ist Tinas Element, hier kann sie eintauchen, eins werden mit der Welt. Sonst ist nicht so viel los bei ihr, zumindest nicht mit Menschen. Der Vater, den sie in der Pflegeanstalt besucht, will nicht damit rausrücken, was es mit der Narbe an ihrem Steißbein auf sich hat. Der Mitbewohner fliegt in hohem Bogen aus dem Bett, wenn er sich mal wieder betrunken zu ihr legt. Sie könne so was nicht, sagt sie und schäkert danach lieber mit einem Fuchs am Fenster.
Im Grunde würde das erste Close-up auf die verquollene Maske über dem Gesicht von Schauspielerin Eva Melander reichen, um klarzustellen: Tina ist eine dieser Superheldinnen vom Typ hässliches Entlein, sie weiß es nur selbst noch nicht. Regisseur Abbasi nimmt sich trotzdem viel Zeit dafür, die Andersartigkeit seiner Heldin Schritt für Schritt zu erforschen und atmosphärisch, sinnlich auszumalen.
Voll beim Zoll
Tina ist nicht etwa Tierpflegerin. Sie arbeitet als Zollbeamtin an einem Fährhafen. Ihre extrem empfängliche Nase ist beim Aufspüren von Schmugglern und Verbrechern sehr hilfreich. „Kann man wirklich riechen, was jemand fühlt?“, fragt eine Kollegin. Tina zuckt mit den Schultern. „Ja“, sagt sie. Eben hat sie mit ihrer Gabe, Scham oder Angst zu wittern, einen Kinderpornografie-Ring erschnüffelt. Der Film bekommt dadurch einen Tatort-haften Spin und wirkt lange unschlüssig, ob er zu einem ambitionierten Sonntagabendkrimi werden oder doch Richtung Fantasy abbiegen soll. Er bleibt irgendwo dazwischen.
Ebenfalls bei einer Kontrolle an der Grenze begegnet Tina Vore (Eero Milonoff), einem Mann, der ihr verblüffend ähnlich sieht und ihr Sensorium auf unbekannte Art durcheinanderbringt. Es ist ein Liebe-auf-den-ersten-Blick-Moment, wie ihn so nur das Kino erfinden kann: zwei Außenseiter mit Supernasen, vereint durch eine dicke Schicht Silikon über ihren Nüstern.
Vore bringt, parallel zur Tatort-Handlung im Hintergrund, das Programm Selbstfindung in Gang. „Wer bin ich?“, fragt Tina nach dem ersten Sex im Wald. Es ist schon dunkel, die beiden sind nebeneinander im Moos versunken. Vore redet nicht vom „shitposting“, wenn er sagt: „Du bist ein Troll.“ Und während die zwei Trolle immer noch interessantere Bedeutungsschichten an sich freilegen, vor allem in Bezug auf Identitätspolitik und Genderfragen, nimmt Border doch die Kurve hin zur Auflösung des Krimiplots.
Regisseur Abbasi setzt dabei immer wieder Genre-Marker. So werden zum Beispiel Maden und Gewürm verschlungen, ein Standard aus dem B-Movie-Horror. Diese Elemente werden bei ihm zu Signifikanten einer Entfremdung, die sich Tina als immer schon Ausgestoßene durch die Konfrontation mit Vore erst nochmals bewusst machen muss. Damit adressiert Abbasi im Subtext seines Films im Grunde alle Ausgeschlossenen, Unterdrückten und durch Verfolgung beinahe Vernichteten sowie ihre Nachkommen. Er wirft die Frage auf, wie man mit den Narben durch das Zurechtstutzen umgeht, mit der Wut und mit dem Durst nach Rache.
Abbasis erster Spielfilm Shelley griff ein ähnliches Thema auf und inszenierte es als Gruselgeschichte zwischen Rosemary’s Baby und dem Body-Horror eines David Cronenberg. In dem Film willigt eine rumänische Haushälterin ein, für ihre wohlhabenden Arbeitgeber in Dänemark ein Kind auszutragen. Sie wird die Schwangerschaft letztendlich nicht überleben – eine überdeutliche Metapher dafür, wie eine sozial Schwächere von der Mehrheitsgesellschaft nicht einfach ausgezehrt, sondern von innen heraus regelrecht aufgefressen wird.
Border setzt im Vergleich nicht auf Katharsis durch Schockeffekte, sondern durch Empathie. Deswegen nimmt sich der Film auch Zeit und mäandert über Umwege, um zu seinem Kern vorzudringen, einem moralischen Dilemma: Ist es erstrebenswert, „human“ zu agieren, wenn doch die Menschheit die Ursache des eigenen Leids ist? Denn die Bösen sind die Normalos. „Ein ganz gewöhnliches Paar. In einer ganz gewöhnlichen Ikea-Wohnung“, wie Tina einmal sagt.
Info
Border Ali Abbasi Schweden/Dänemark 2018, 110 Min.
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