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Indien Nach von der Polizei geduldeten Übergriffen auf Muslime sieht die Schriftstellerin Arundhati Roy die Gefahr eines faschistischen Staates heraufziehen
Zerstörtes Viertel an der nördlichen Peripherie von Delhi
Zerstörtes Viertel an der nördlichen Peripherie von Delhi

Foto: Sajjad Hussain / AFP

Es war ein faschistischer Mob, der Ende Februar – angefeuert durch Reden von Mitgliedern der regierenden Bharatiya Janata Party (BJP) und einen großen Teil der elektronischen Medien – zu einem mörderischen Angriff auf Muslime ausholte, die in den Arbeiterkolonien im Nordosten Delhis leben. Was geschah, lag schon eine Weile in der Luft, so dass die Menschen vorbereitet waren und sich verteidigten. Dennoch wurden Märkte, Geschäfte, Häuser, Moscheen und Fahrzeuge in Brand gesteckt. Die Straßen lagen voller Steine und Trümmer. Die Krankenhäuser mussten Verletzte und Sterbende aufnehmen. Die Leichenhallen waren voll von Toten, sowohl Muslime als auch Hindus. Die Menschen auf beiden Seiten haben gezeigt, dass sie zu entsetzlicher Brutalität, aber ebenso zu unglaublicher Tapferkeit fähig sind.

Brandstifter Polizei

Allerdings kann es hier keine Äquivalenz geben. Auch ändert dieses Urteil nichts an der Tatsache, dass der Angriff von lumpenproletarischen Massen ausging, die vom Apparat eines mehr und mehr offen faschistischen Staates unterstützt wurden. Ungeachtet aller Behauptungen ereignet sich in Indien gerade nicht das, was man gern als muslimischen „Aufstand“ bezeichnet. Zu erleben ist vielmehr der andauernde Kampf zwischen Faschisten und Antifaschisten, bei dem Muslime die bevorzugten „Feinde“ der Faschisten sind. Das Ganze als Aufruhr zu bezeichnen, oder links gegen rechts oder sogar „rechts gegen falsch“, wie es viele tun, ist gefährlich und verwirrend.

Wir alle haben die Videos gesehen, die zeigen, wie die Polizei bereitsteht und manchmal an den Brandstiftungen beteiligt ist. Wir haben gesehen, wie sie die Überwachungskameras zerschlagen haben, wozu es auch bei der Zerstörung der Bibliothek in der Jamia Millia Islamia-Universität am 15. Dezember kam. Wir haben gesehen, wie Polizisten verletzte muslimische Männer schlugen und sie zwangen, die Nationalhymne zu singen. Wir wissen, dass einer dieser jungen Männer tot ist. Alle Toten, Verwundeten und Verletzten, Moslems wie Hindus, sind Opfer dieses Regimes, das von Narendra Modi, unserem seine Gesinnung offenbarenden Premierminister, angeführt wird. Dem ist es nicht fremd, selbst an der Spitze des Geschehens in einem Staat zu stehen, in dem vor 18 Jahren wochenlang ein Massaker viel größeren Ausmaßes stattfand.

Die Anatomie dieser besonderen Feuersbrunst in Delhi dürfte noch jahrelang untersucht werden. Aber die lokalen Details werden nur eine Frage der historischen Aufzeichnung sein, weil die Wellen, die aus hasserfüllten Gerüchten in den sozialen Medien entstehen, nach außen hin zu strömen beginnen und wir bereits jetzt mehr Blut im Wind riechen können.

Auf den Kopf gestellt

Wir haben gelernt, vor Wahlen mit Massakern wie diesem jüngst begangenen zu rechnen. Sie sind zu einer Art barbarischem Wahlkampf geworden, um die Stimmen zu polarisieren und Wahlkreise aufzubauen. Zum Massaker im Norden Delhis kam es nur wenige Tage nach einer Wahl, nachdem die regierende BJP-RSS eine demütigende Niederlage erlitten hatte. Was zum Inferno für Delhi wurde, ist eine Ankündigung für die anstehenden Wahlen in Bihar.

Alles wurde aufgezeichnet. Alles ist für jeden zu sehen und zu hören – die provozierenden Reden von Parvesh Verma, von Gewerkschaftsminister Anurag Thakur, dem Chefminister des Staates Uttar Pradesh, Yogi Adityanath, dem Innenminister Amit Shah und sogar dem Premierminister selbst. Und doch ist alles auf den Kopf gestellt. Es wird so getan, als sei ganz Indien ein Opfer der absolut friedlichen, meist weiblichen, meist – aber nicht nur – muslimischen Demonstranten, die seit fast 75 Tagen zu Zehntausenden auf der Straße sind, um gegen das neue Staatsbürgerschaftsgesetz zu protestieren.

Dieses Dekret, das nicht-muslimischen Minderheiten einen schnellen Weg zur Staatsbürgerschaft bietet, ist eklatant verfassungswidrig und antimuslimisch. In Verbindung mit dem Nationalen Bevölkerungsregister und dem Nationalen Bürgerregister soll es nicht nur Muslime, sondern auch Hunderte von Millionen Indern, die nicht über die erforderlichen Dokumente verfügen, delegitimieren und kriminalisieren – inklusive derjenigen, die heute „Goli Maaro Saalon Ko“ (Schießt die Verräter aus unserem Land heraus) singen.

Wenn die Staatsbürgerschaft zur Disposition steht, dann steht alles in Frage, was in Frage kommt: die Rechte der Kinder, das Wahlrecht, das Recht auf Land. Wie Hannah Arendt sagte: „Die Staatsbürgerschaft gibt Ihnen das Recht, Rechte zu haben“. Jeder, der glaubt, dass dies nicht der Fall ist, wende sich bitte Assam zu und schaue sich an, was dort passiert ist – mit Hindus, Muslimen, Dalits und Adivasi.

Der einzige Zweck des neuen Staatsbürgerschaftsgesetzes ist es, die Menschen nicht nur in Indien, sondern auf dem gesamten Subkontinent zu verunsichern und zu spalten. Wenn es sie tatsächlich gibt, dann können diese Phantom-Millionen von Menschen, die der derzeitige Innenminister Bangladeschs als „Termiten“ bezeichnet, nicht in Gefangenenlagern festgehalten und nicht abgeschoben werden. Durch die Verwendung einer solchen Terminologie und durch das Ausdenken eines solch lächerlichen, diabolischen Plans gefährdet diese Regierung in Wirklichkeit die Millionen Hindus, die in Bangladesch, Pakistan und Afghanistan leben und unter der Gegenreaktion dieser von Delhi ausgehenden Bigotterie leiden könnten.

Wo wir gelandet sind

1947 erlangten wir die Unabhängigkeit von der Kolonialherrschaft, die von fast allen mit Ausnahme unserer heutigen Herrscher erkämpft wurde. Seitdem haben alle möglichen sozialen Bewegungen, dazu kastenfeindliche, antikapitalistische und feministische Kämpfe unseren bisherigen Weg markiert. In den 1960er Jahren war der Aufruf zur Revolution eine Forderung nach Gerechtigkeit, nach der Umverteilung des Reichtums und dem Sturz der herrschenden Klasse.

In den 1990er Jahren waren wir darauf reduziert, gegen die Vertreibung von Millionen von Menschen von ihren Ländereien und Dörfern zu kämpfen. Es ging um Menschen, die zum Kollateralschaden für den Aufbau eines neuen Indiens wurden, in dem derzeit die 63 reichsten Menschen über einen Reichtum verfügen, der größer ist als die jährlichen Haushaltsausgaben für 1.200 Millionen Menschen.

Jetzt sind wir darauf reduziert, zusehen zu müssen, wie der Staat seinen Schutz zurücknimmt, wir sehen, wie die Polizei kommunalisiert wird, wir sehen, wie die Justiz allmählich ihre Pflicht aufgibt. Wir sehen, wie sich die Medien, die sich des Schicksals der von Willkür Betroffenen annehmen sollten, genau das Gegenteil tun.

Es ist bald 230 Tage her, seit Jammu und Kaschmir verfassungswidrig seines Sonderstatus enthoben wurde. Tausende von Kaschmiris, darunter drei ehemalige Ministerpräsidenten, befinden sich weiter im Gefängnis. Sieben Millionen Menschen leben unter einer virtuellen Informationsblockade, einer neuartigen Übung in der massenhaften Verletzung von Menschenrechten. Am 26. Februar sahen die Straßen von Delhi aus wie die Straßen von Srinagar. Das war der Tag, an dem die Kinder aus Kaschmir zum ersten Mal seit sieben Monaten wieder zur Schule gehen konnten – aber was bedeutet es, zur Schule zu gehen, während alles um einen herum langsam erstickt wird?

Eine Demokratie, die nicht von einer Verfassung regiert wird und deren Institutionen alle ausgehöhlt wurden, kann stets nur ein Staat der Mehrheit sein. Man kann einer Verfassung im Ganzen oder in Teilen zustimmen oder sie ablehnen - aber so zu tun, als gäbe es sie nicht, wie die jetzige Regierung es tut, bedeutet, die Demokratie vollständig abzubauen. Vielleicht ist dies das Ziel. Dies ist unsere Version des Coronavirus. Wir sind krank.

Wir haben Arbeit zu erledigen. Und eine Welt zu gewinnen.

Dieser Artikel erschien zuerst auf Scroll.in

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Übersetzung: Holger Hutt

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