Als man in Rostock den Mob brandschatzen ließ

Erinnerungen Vor 20 Jahren wurden in Rostock-Lichtenhagen fremdenfeindliche Ausschreitungen möglich. Dem hätte die Staatsmacht ein Ende machen können. Warum tat sie es nicht?

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Heute und in den nächsten Tag wird in vielen Medien an die fremdenfeindlichen Ausschreitungen von Rostock-Lichtenhagen erinnert. Sie waren, so sehe ich es, zwischen dem 22. und 26. August 1992 gegen die Zentrale Aufnahmestelle für Asylbewerber und ein Wohnheim für ehemalige vietnamesische Vertragsarbeiter im sogenannten „Sonnenblumenhaus“ in Rostock-Lichtenhagen von den Behörden zugelassen worden. Wikipedia bezeichnet sie als „die massivsten fremdenfeindlich motivierten Übergriffe der deutschen Nachkriegsgeschichte“. An den Ausschreitungen beteiligten sich mehrere hundert rechtsextreme Randalierer und bis zu 3000 applaudierende Zuschauer, die johlend und Beifall klatschend den Einsatz von Polizei und Feuerwehr behinderten. In den Fernsehberichten hörte man deutlich „Deuschland den Deutschen“-Rufe. Andere Dumpfbacken grölten „Ausländer raus!“ Bierdosen machten die Runde.

Das waren Kriegsbilder!

Ich kann mich noch sehr genau an den Abend erinnern, da die Ausschreitungen ihren gefährlichen Höhepunkt erreichten. Als ich auf den TV-Kanal umgeschaltet hatte, der die fürchterlichen Bilder von dem teilweise brennenden Wohnheim sendete, durchfuhr mich ein eiskalter Schauer in meiner damaligen Wohnung in der Dortmunder Gneisenaustraße. Ich brauchte wenige Sekunden, um zu begreifen, das von den Fernsehkameras erfasste und in alle möglichen Wohnstuben übertragene Grauen Rostock-Lichtenhagen sein. Deutschland also?! Von einem Moment auf den anderen schien eine Welt in meinem Innern zusammenzubrechen.

Vor wenigen Jahren, 1990, schien sich alles doch so ins Hoffnungsvolle kehren zu wollen. Gut, die groß gefeierte Wiedervereinigung, die in Wirklichkeit zwar „nur“ ein Anschluss bzw. Beitritt der DDR zur BRD war, zeigte bereits erste Mängel. Dennoch schien manches möglich. Zurück zum Zuvor wollten gewiss die Wenigsten.

Aber was ich da nun plötzlich sah, waren Kriegsbilder! So etwas verband man bislang eher mit üblen Ereignissen in Bürgerkriegsländern, etwa auf dem afrikanischen Kontinent. Welch hasserfüllte Gesichter aber da nun von Rostock aus gesendet wurden. Gesichter, von den Anstrengungen des Grölens abstoßender Sätze zu abstoßenden Fratzen verzogen! Man sah und hörte: Wenn die da könnten, so würden sie auch Töten.

Das Ganze hatte einen Vorlauf

Schon Minuten später ging mir das Schreckliche auf: Das musste ja so kommen! Die leidige, nicht nur lange am Köcheln gehaltene, sondern auch noch böse befeuerte Asyldiskussion, die Hetze der Bildzeitung, wonach riesige Massen von Ausländern nach Deutschland auf dem Weg sein. Das Gerede bestimmter Politiker, vom Boot das voll sei. All das zusammen hatte zur Bildung eines gefährlichen hochexplosiven Gemischs beigetragen, dass sich nun augenscheinlich entzündet hatte! Das Ganze hatte einen Vorlauf.

„Nachdem die Aufnahmestelle am Montag, dem 24. August, evakuiert worden war, wurde das angrenzende Wohnheim, in dem sich noch über 100 Vietnamesen und ein Fernsehteam des ZDF aufhielten, mit Molotowcocktails in Brand gesteckt. Auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzungen zog sich die Polizei zeitweise völlig zurück und die im brennenden Haus Eingeschlossenen waren schutzlos sich selbst überlassen.“ (Wikipedia)

Der eigentliche Skandal

Letzteres stellte den eigentlichen Skandal dar: Polizei, die nicht nur mit viel zu wenig Mannschaften vor Ort war, sondern sich auch als die Situation völlig aus dem Ruder zu laufen drohte, wurde plötzlich abgezogen. Heute weiß man, dass Polizeibeamte ungläubig nachfragten. Sie hatten richtig gehört: Abzug! Später wurde bekannt ein hoher Polizeibeamter habe erst noch einmal nach Hause fahren müssen, um ein frisches Hemd anzuziehen! Im Wohnheimbangten Menschen um ihr Leben! Erst spät wurde Bereitschaftspolizei von weit her herangeführt. Irgendwann war der Spuk dann zu Ende.

Die Polizei kann, wenn sie will. Warum konnte sie in Rostock nicht bzw. zu spät?

Die Verantwortlichen in Kommune, Land und von der Polizei mögen sich vielleicht auch heute damit herausreden, es hätte sich betreffs des fremdenfeindlichen Pogroms um eine Verkettung ungünstiger Umstände gehandelt. Doch so stimmt das nicht. Die Eskalation am und rund um das Ausländerwohnheim in Rostock-Lichtenhagen war, davon zeugen auch Zeitungsberichte der örtlichen Presse, schon Tage vor den schlimmen Vorfällen nahezu mit Händen zu greifen und schon gar nicht zu übersehen gewesen. Hat man die Sache damals also einfach laufen lassen, in Kauf genommen, dass gar Menschen ums Leben kommen oder schwer verletzt werden können, um dem Asylrecht den letzten niederschmetternden Schlag zu versetzen? Beweise dafür gibt es nicht. Andererseits will es zumindest überhaupt in den Kopf, dass – wenn man von Brokdorf-, Wackersdorf- und anderen Protesten – her weiß, was die Staatsmacht so an martialisch aufgerüsteten Polizisten und dazu gehörigen Gerät, wie etwa Wasserwerfer etc. aufzufahren in der Lage ist, dass das in Rostock-Lichtenhagen nicht möglich gewesen wäre.

Der Schoss ist mehr als fruchtbar noch

Daran war heute zu denken. Damals kam wie durch ein Wunder niemand der Bedrohten zu Tode. Mir schwant düster, heute dürfte noch mancher vor zwanzig Jahren selbst dabei gewesener, mit tuender im Pulk des grölenden, hetzenden hasserfüllten Pöbels stolz auf das Getane sein. Nicht zu vergessen: die hinter den Gardinen Beifall klatschenden braven Bürgerinnen und Bürger. Nicht auszudenken, Sarrazins roter Wälzer wäre dazumal schon auf dem Markt gewesen. Und heute? Da ist es möglich, dass jahrelang eine braune NSU-Terrorbande mordend durch Deutschland zieht und zehn Tote hinterlässt. Der Schoss ist mehr als fruchtbar noch! Die NPD könnte man irgendwann verbieten. Aber den braunen Brei in manchen Köpfen?

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Geschrieben von

asansörpress35

Politischer Mensch, der seit der Schulzeit getrieben ist, schreibend dem Sinn des Lebens auf die Spur zu kommen.

asansörpress35

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