"Arbeitszeitverkürzung jetzt!"

Arbeitslosigkeit Massenarbeitslosigkeit gibt es schon viel zu lange in Deutschland. Heinz-J. Bontrup und Mohssen Massarrat meinen: Arbeitszeitverkürzung ist lange überfällig.

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Wenn die Menschen hierzulande an den Abendbrottischen platznehmen, stellt sich immer öfters auch die Angst mit ein. Während sie essen, nagt sie an deren Selbstbewusstsein. Und schon beginnen die Menschen auch an den Fragen zu kauen, die die Angst in ihrem Innern aufzuwerfen beginnt. Wird morgen noch alles so wie heute sein? Beispielsweise könnten die von der von General Motors ins Auge gefasste Schließung des Bochumer Opel-Werkes Betroffenen von derlei Unbehagen beschlichen werden. Arbeitsplätze gehen in Größenordnungen verloren. Auch in anderen Branchen.

In Deutschland herrscht Massenarbeitslosigkeit

“Viel zu lange”, so schreiben Heinz-J. Bontrup und Mohssen Massarrat, “gibt es in Deutschland Massenarbeitslosigkeit”. So steht es im Vorwort zu einer im pad-Verlag Bergkamen erschienenen Broschüre. Die Bundesrepublik habe seit ihrer Gründung “nur wenige Vollbeschäftigungsjahre” aufzuweisen. “Das kapitalistische System schafft es offensichtlich nicht, für alle arbeitssuchenden Menschen zumindest einen Arbeitsplatz bereitszustellen, einen konkreten Ort, an dem sie ihre gesellschaftlich gebildeten Arbeitsvermögen anwenden können, ob hoch oder weniger hoch ausgebildet, um von bezahlter Arbeit ohne staatliche (gesellschaftliche) monetäre Alimentierung zu leben”, so die Herausgeber der Broschüre.

Oskar Negt: Die Angst vor Arbeitsplatzverlust dringt in alle Poren unserer Lebenszusammenhänge

Sie verweisen in diesem Zusammenhang auf den Sozialphilosoph Oskar Negt: “Es ist dabei zunächst noch keine Rede von Selbstverwirklichung in der Arbeit, sondern nur von der bloßen Möglichkeit, durch gegenständliche Tätigkeit, und sollte sie auch noch so entfremdet sein, die materiellen Grundlagen der Existenz zu sichern und dadurch in den Genuss der einzig verfügbaren öffentlichen Anerkennungsprivilegien zu gelangen. Eine Gesellschaft, die dieses Minimum nicht mehr anzubieten imstande ist, verspielt langfristig ihren moralischen Kredit, der für eine einigermaßen friedliche Konfliktregelung ihrer Interessenwidersprüche unabdingbar ist; unter solchen Verhältnissen wachsen Gewaltpotentiale sehr schnell.” Überdies, so Negt weiter, “dringt die Angst “vor Arbeitsplatzverlust aus dem gesellschaftlichen Ganzen vertrieben zu werden, in alle Poren unserer Lebenszusammenhänge.”

Bekämpfung der Arbeitslosigkeit wurde schon immer aus Interessengründen erschwert

Die Arbeitslosigkeit gehört zum Kapitalismus wie der Schwanz zum Raubtier, welches diese Gesellschaftsordung seinem Wesen nach symbolisieren könnte. Nicht umsonst erinnern, Heinz-J. Bontrup und Mohssen Massarrat daran, dass die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit “schon immer aus Interessengründen erschwert” wurde. Warum, wird mit dem von den Herausgebern zitiertem polnischen Ökonomen Michal Kalecki deutlich. Dieser schrieb 1943, eine Situation der Vollbeschäftigung schwäche die Macht der Unternehmer im Kapitalismus und stärke die Gewerkschaften. Verwiesen wird auch auf die britische Ökonomin Joan Robinson, die im Jahr 1949 betonte, Arbeitslosigkeit diszpliniere die abhängig Beschäftigten und Arbeitslosen gleichzeitig. Das ohnehin schon hinter solchen Überlegungen stehende moralisch höchst zweifelhaft zu nennende egoistische Denken im Sinne kapitalistischen Interesses erfuhr in Deutschland mit Hartz IV noch eine zusätzliche Perversion. Hartz IV diszpliniert und kontrolliert die davon Betroffenen und wirkt zugleich abschreckend auf diejenigen, welche noch in halbwegs vernünftigen Arbeitsverhältissen arbeiten. Nach dem Motto: Lieber ducken, buckeln und Lohneinbußen hinnehmen, als sich in den Hartz IV-Folter-Keller werfen zu lassen.

Reservearmee in der Hinterhand

Nach Karl Marx wird der Kapitalismus, so es ihm nützlich erscheint, immer wieder dafür sorgen, dass er eine (industrielle) Reservearmee in der Hinterhand hat, um gegebenenfalls die Löhne zu drücken. Auch in unseren Zeiten ist dieses Rezept keineswegs vergilbt und in der Schublade verschwunden. Vielleicht erscheint es bisweilen nur in anderem Gewande. Albrecht Müller von den NachDenkSeiten verweist da zum Beispiel auf die Äußerung des ehemaligen konservativen Notenbanker Sir Alan Budd (Biografie siehe hier), der die Geldpolitik der Bank of England unter Margret Thatcher so beschrieb:

„Viele „haben nie (…) geglaubt, dass man mit Monetarismus die Inflation bekämpfen kann. Allerdings erkannten sie, dass [der Monetarismus] sehr hilfreich dabei sein kann, die Arbeitslosigkeit zu erhöhen. Und die Erhöhung der Arbeitslosigkeit war mehr als wünschenswert, um die Arbeiterklasse insgesamt zu schwächen. […] Hier wurde – in marxistischer Terminologie ausgedrückt – eine Krise des Kapitalismus herbeigeführt, die die industrielle Reservearmee wiederherstellte, und die es den Kapitalisten fortan erlaubte, hohe Profite zu realisieren.“ (The New Statesman, 13. Januar 2003, S. 21)

“Ökonomisches Alphabetisierungsprogramm” des pad-Verlags

Dem Bergkamener pad-Verlag kommt das Verdienst zu, im Rahmen des Projektes “Ökonomisches Alphabetisierungsprogramm” (RE stellte bereits einige Publikationen daraus vor) einige – auch für Laien verständlich formulierte – aufklärende und wegweisene Publikationen zu erschwinglichen Preisen herauszubringen. In der neuesten Broschüre haben es sich die beiden Herausgeber zur Aufgabe gemacht einen gangbaren Weg aufzuzeigen, wie sukzessive ein Abbau der Massenarbeitslosigkeit in Werk gesetzt werden kann. Ein Weg, der geeignet wäre, den permanenten Druck auf die Beschäftigten und ihre Gewerkschaften zu verringern und ein System von Widersprüchen und hieraus erwachsenen schwerwiegenden vielfältigen gesellschaftlichen und ökonomischen Pathologien entgegen zu wirken.

Antiquiertes Rezept?

Das Rezept, das nun dagegen verschrieben wird, erscheint auf den ersten Blick einigermaßen antiquiert. Ein Rainer Brüderle würde es wohl sofort verteufeln und als Griff in die gewerkschaftliche Mottenkiste bezeichnen. Heinz-J. Bontrup und Mohssen Massarrat scheint das nicht zu schrecken. Und sie glauben ganz offenbar, dass die verschriebene Medizin auf längere Sicht Wirkung entfalten würde, so sie denn Annahme fände. In der Tat: das Rezept ist nicht neu. Arbeitszeitverkürzung. Schon in den 1970er Jahren warnte Fritz Vilmar (als Nachwirkung auf die Weltwirtschaftskrise von 1974/75) die Gewerkschaften im Jahre 1977 vor den Folgen einer nicht umgesetzten Arbeitszeitverkürzung. Vilmar fordert damals eine “Systematische Verknappung des Arbeitskraft-Angebots” als eine “Unverzichtbare Strategie erfolgreicher Vollbeschäftigungspolitik”. Zitiert wird in der Broschüre der Sozialethiker Oswald von Nell-Breuning, in Fragen der Arbeitszeitverkürzung noch viel weiter ging. Er war 1985 der Meinung, “das zur Deckung des gesamten Bedarfs an produzierten Konsumgütern ein Tag in der Woche mehr als ausreicht.”

Erfolge in Sachen Arbeitszeitverkürzung konnten in 1980er Jahren (Stichwort 35-Stunden-Woche) durchaus verzeichnet werden. Bontrup und Massarrat verweisen jedoch darauf, dass es Mitte der 1990er Jahre still um weitere Arbeitszeitverkürzungen geworden war. Gewerkschaften hätten “seitdem zu sehr auf reine Lohnforderungen gesetzt”.

Albert Einstein: Unternehmertum auf die Dauer außerstande die Arbeitslosigkeit zu steuern

Schon Albert Einstein (im Heft auf Seite 10 oben zitiert) wusste: “Der Kapitalismus, oder besser gesagt, das reine Unternehmertum wird auf die Dauer außerstande sein, die Arbeitslosigkeit zu steuern (die sich wegen des technischen Fortschritts immer mehr zu einem chronischen Übel auswächst), um zwischen der Produktion und der Kaufkraft des Volkes ein gesundes Gleichgewicht zu halten.”

Ein altes, zumal bekanntes, Problem also. Wird also die faire Teilung der vorhandenen Arbeit durch Arbeitszeitverkürzung die Lösung sein? Die Lösung gewiss nicht, aber womöglich ein Teil der Lösung. Denn wir brauchen in unserer Gesellschaft mehr Umverteilung. Umverteilung von Arbeitszeit gleichermaßen wie eine Umverteilung des erwirtschafteten gesellschaftlichen Reichums.

“Eine Umverteilung von oben nach unten für einen vollen Lohnausgleich bei Arbeitszeitverkürzung ist insofern nicht nur grundsätzlich möglich, sie ist gesellschaftspolitisch sogar geboten” (…)

In der Broschüre wird der Kürzung der wöchentlichen Arbeitszeit der heute Vollzeitbeschäftigten auf 30 Stunden (im Rahmen einer Viertagewoche) das Wort geredet. Gleichzeitig müsse, so steht es zu lesen, die Arbeitszeit der heute Teilzeitbeschäftigten (sofern die dies wünschten), verlängert werden. Das ginge freilich nicht von heute auf morgen.

Seite 25 oben: “Die heute 23,5 Millionen Vollzeit-Beschäftigten kämen so in fünf Jahren auf eine 30-Stunden-Woche. Dies würde gleichzeitig sukzessive 4,7 Millionen zusätzlicher Arbeitskräfte oder ein zusätzliches Arbeitsvolumen von 6,6 Milliarden Stunden bedeuten. Geht man davon aus, dass von den 12,5 Millionen Teilzeitbeschäftigten rund zwei Millionen gerne Vollzeit arbeiten würden, so müsste hier die durchschnittliche Arbeitszeit um 14,64 Stunden pro Woche bzw. um 638,45 Stunden pro Jahr erhöht werden.”

Auch an den Ausbau von öffentlicher Beschäftigung ist gedacht. Nur wird gleichzeitig zu bedenken gegeben: “Arbeitszeitverkürzung, zu der wir hier aufrufen, hat freilich nur dann Aussicht auf Erfolg, wenn die große Mehrheit der Lohn- und Gehaltsabhängigen von deren Sinn überzeugt und auch bereit ist, gegen massive konträre Kapital- und Politikinteressen zu kämpfen.” Aber werden die Beschäftigten wirklich bereit sein, ein Weniger an Arbeit gegen ein Mehr an Freizeit einzutauschen? Es wird daraufhin gewiesen, dass “viele abhängig Vollzeit-Beschäftigte jede Arbeitszeitverkürzung” ablehnen, “weil sie Einkommensverluste und Arbeitszeitverdichtungen befürchten”. (S. 28 oben)

Auf Seite 30 lesen wir: “Eine Umverteilung von oben nach unten für einen vollen Lohnausgleich bei Arbeitszeitverkürzung ist insofern nicht nur grundsätzlich möglich, sie ist gesellschaftspolitisch sogar geboten: Erstens, um mehr soziale Gerechtigkeit herzustellen und zweitens um eine der Hauptquellen der Finanzspekultationen und Finanzkrisen auszutrocken, zu der die Kapitalseite in den letzten dreißig Jahren auf Grund sinkender Lohnquoten gelangen konnte.” Man zeigt sich allerdings darüber im Klaren, dass das “nur durch heftige gesellschaftliche Auseinandersetzungen” zwischen Kapital und Arbeit, “als auch im politischen Raum” zu erreichen sein wird.

So soll es funktionieren

Skepsis betreffs der Finanzierung der Arbeitszeitverkürzung versucht man so den Wind aus den Segeln zu nehmen: Der Anspruch etwa auf vollen Lohnausgleich begründe sich “durch eine verteilungsneutrale Teilung des Produktivitätszuwachses zwischen den Tarifpartnern.” Löhne und Gewinne stiegen hier in exakt gleicher Höhe mit der Produktivitätsrate bzw. Lohn- und Gewinnquote bleiben konstant.”

Genauer (S. 37 Mitte): “Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohnausgleich bedeutet also im Ergebnis, dass die Arbeitnehmer bzw. ihre Gewerkschaften in den Tarifverhandlungen entschieden müssen, wie viel sie von den jeweiligen Produktivitätssteigerungen für Lohnherhöhungen und/oder Arbeitszeitverkürzungen verbrauchen bzw. aufteilen wollen. Zwar kann bei einer 100-prozentigen Verwendung der Produktivitätssteigerung für eine Arbeitszeitverkürzung mit vollem Lohnausgleich der Lohnsatz steigen, nicht aber die Lohnsumme. Dennoch erhalten die Arbeitnehmer einen Ausgleich für die Inflationsrate, so dass die Kaufkraft erhalten bleibt. Sie nimmt nur nicht zu” Dafür arbeiten die Arbeitnehmer gemäß der Arbeitszeitverkürzung aber auch weniger.”

Die Frage nach der Würde des Menschen

Das von Bontrup/Massarrat herausgebene Buch mit all seinen darin versammelten Beiträgen, Materialien (u.a. Oswald von Nell-Breuning, Fritz Vilmar, Oskar Negt, Heinz-J. Bontrup) einschließlich der Offene Brief an die Vorstände der Gewerkschaften, Parteien, Sozial- und Umweltverbände und Kirchenleitungen in Deutschland beleuchtet das Thema Arbeitszeitverkürzung gründlich von alles nötigen Seiten. Jeder der sich, gerade in aktuellen Krisenzeiten, für die Fragen unserer Zeit – die im Kapitalismus in unterschiedlicher Ausprägung immer wieder auch Fragen nach der Würde des Menschen waren und weiter sind – interessiert und nach Lösungsmöglichkeiten sucht, sollte nach dieser Broschüre greifen und sich seine ganz eigenen Gedanken dazu machen und möglichst mit anderen Menschen darüber in Austausch treten.

In Deutschland herrscht nach wie vor Massenarbeitslosigkeit. Der Druck den alles damit Verbundene auf viele Menschen ausübt ist für den Einzelnen oft schier unerträglich. Es sind diese und andere Auswüchse des Kapitalismus, die Menschen bedrückten und heute wieder vermehrt bedrücken und deren Würde beschädigen. In seinem in der vorliegenden Broschüre enthaltenem Essay “Arbeit und menschliche Würde” zitiert Oskar Negt den jungen Karl Marx, der Kant und dessen Maßstäbe eines kategorischen Imperativs im Hinterkopf darauf orientierte, “alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist.”

Zweifeslohne zählen Massenarbeitslosigkeit und das wie ein Disziplinierungs- und Versklavungsinstrument wirkende Hartz-IV-Instrumentarium zu solchen Verhältnissen, die umgeworfen werden müssten. Das in der Broschüre geforderte Mittel Arbeitszeitverkürzung könnte dagegen zu einem Werkzeug – wenn nicht zwar gleich der Umstürzung – so doch aber der Linderung der üblen Verhältnisse werden. Schritt für Schritt im Verein mit anderen Mitteln. Vorausgesetzt es lässt sich gesellschaftlich durchsetzen…

Heinz-J. Bontrup/Mohssen Massarrat (Hrsg.)

Arbeitszeitverkürzung jetzt! 30-Stunden-Woche fordern!

Mit dem “Manifest zur Bekämpfung der Massenarbeitslosigkeit”

74 Seiten, 5 Euro; pad-Verlag/Bergkamen

Staffelpreise bei Direktbestellung:
ab 5 Expl. 4,50 €/St., ab 10 Expl. 4.– €/St.
E-Mail: pad-Verlag@gmx.net

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Geschrieben von

asansörpress35

Politischer Mensch, der seit der Schulzeit getrieben ist, schreibend dem Sinn des Lebens auf die Spur zu kommen.

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