Bündnis gegen das Schweigen: Aufschrei nötig

Rassismus Vor einem Jahr flog der Nationalsozialistische Untergrund (NSU) auf. Die Aufklärung des größten Sicherheitsskandals der BRD lässt zu wünschen übrig.

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Nicht ganz ein Jahr ist es her, dass am 4. November 2011 eine gefährliche deutsche neonazistische Terrorgruppe aufflog. Die Naziterroristen hatten – unfassbar! – dreizehn Jahre in Deutschland mordend herumreisen können. Skandalös dazu: Ohne, dass es den Ermittlungsbehörden bzw. dem Verfassungsschutz gelang die Terroristen dingfest zu machen. Es handelt sich zweifellos um den größten Sicherheitsskandal in der Geschichte der BRD.

Die Terrorgruppe namens NSU („Nationalsozialistischer Untergrund“) tötete zehn Menschen. Neun Mitbürger mit migrantischem Hintergrund und die Polizistin Michéle Kiesewetter fielen dem braunen Naziterror zum Opfer. Unzählige Verletzte forderten allein zwei der NSU zugeschriebene Bombenanschläge. Einer davon in der Kölner Keupstraße. Einer Straße, wo fast nur türkisch- und kurdischstämmige Menschen wohnen oder Geschäfte betreiben.

Als treibendes Motiv der NSU-Terroristen muss Hass auf Menschen mit realem oder angenommenem migrantischem Hintergrund angenommen werden. Die ermittelnde Polizei suchte die Täter zunächst vorwiegend im ethnischen Umfeld der Verbrechensopfer. Einige Hinterbliebene sind noch heute traumatisiert. Schließlich gerieten nicht selten ausgerechnet sie ins Fadenkreuz der Ermittler. Die streckten ihre Fühler sogar bis ins familiere Umfeld der Opfer in der Türkei aus.

Trotz dieser offensichtlichen fatalen Fehler in der polizeilichen Ermittlungsarbeit behaupten Verantwortliche in Behörden und der regierenden Politik nach wie vor davon, man habe wie es sich gehört “in alle Richtungen” ermittelt. Vor Untersuchungsausschüssen wird vertuscht, getrickst und geschwiegen. Ein “Bündnis gegen das Schweigen” hat für den heutigen Sonntag einen gesellschaftlichen Aufschrei angeregt.

Zuletzt unterstrich Bundesinnenminister Hans-Peter Friedrich die Behauptung vom Ermitteln in alle Richtungen abermals im Polittalk “Günther Jauch” am vergangenen Sonntag. Der frühere Namen einer polizeilicher Sonderkommission spricht eine andere Sprache: “Soko Bosporus”. Die Medien waren da nicht besser, sprachen und schrieben von den “Döner-Morden”.

Ein Skandal sondergleichen

Der NSU finanzierte sich wohl über ein bundesweites neonazistisches Netzwerk sowie über mindestens zwölf Banküberfälle. Unterstützung erhielt die braune Mörderbande in Form von Wohnungen, Pässen, Autos von einem festen Kreis, bestehend aus ca. 20 Personen, durch die verbotene Organisation Blood & Honour, durch Funktionäre der NPD und durch freie Kameradschaften.

Nach allem was bis dato bekannt wurde, berichteten aus diesem Kreis der Unterstützer mehrere so genannte V-Leute des Verfassungsschutzes den deutschen Behörden. Hauptsächlich den verschiedenen Ämtern des Verfassungsschutzes. Doch sowohl in verschiedenen Landesämtern für Verfassungsschutz war man unfähig oder vielleicht gar nicht willens oder in der Lage, die Bande zu stoppen. Inzwischen kristalliert sich immer mehr heraus, dass Verfassungsschutz- und Strafverfolgungsbehörden höchstwahrscheinlich eher Teil des Problems und nicht der Teil der Lösung waren.

Mitglieder von Landtags- bzw. Bundestagsuntersuchungsausschüssen, die den mühsamen Versuch unternehmen Licht in den braunen Sumpf zu bringen, müssen erleben, dass sie von vorgeladenen verantwortlichen Zeugen belogen und getäuscht werden. Der Grüne Hans-Christian Ströbele hat ob der dabei an den Tag gelegten Dreistigkeit bereits mehrfach kopfschüttelnd die Hände über den Kopf zusammengeschlagen. So etwas, sagte der Bundestagsabgeordnete und Mitglied des NSU-Bundestagsuntersuchungsausschuss kürzlich vor der Presse, sei ihm während seiner gesamten politischen Tätigkeit nicht untergekommen. Gleichermaßen erbost zeigte sich Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau (DIE LINKE). Auch der Tenor der Medienberichte erschreckt: Ständig erfährt man, niemand will etwas gewusst haben, noch will irgend jemand etwas entschieden haben.

Kenan Kolat: In Deutschland haben wir “ein riesiges Rassismus-Problem”

Mag es auch von bestimmter Seite noch so oft geleugnet werden: Deutschland hat offenbar ein nicht geringes Rassismus-Problem. Das Schlimme dabei: dieser Rassismus kommt auch aus der Mitte der Gesellschaft. Auch bestimmte Kommentare hier auf Readers Edition deuten beängstigend darauf hin.

Auch der Bundesvorsitzende der Türkischen Gemeinde in Deutschland, Kenan Kolat kritisiert diesen Zustand hart. Besonders sieht Kolat Defizite im Verständnis und betreffs der Aufklärung der Taten: „Es sieht nicht danach aus, dass die politische Klasse verstanden hat, dass wir mit dem größten Sicherheitsskandal seit der Gründung der Bundesrepublik Deutschland zu tun haben. Unglaublich ist nicht nur, dass es eindeutige Vertuschungsversuche gegeben hat, sondern dass bestimmte Politiker nicht wahr haben wollen, dass wir ein riesiges Rassismus-Problem in Deutschland haben.“

Kenan Kolat redet Tacheles: „Der Rechtsruck in der Gesellschaft ist kein Randthema, sondern eindeutig ein Thema der Mitte geworden.“ Nicht zuletzt, so Kolat weiter, trügen leider auch bestimmte Buchautoren dazu bei. An wen er dabei denkt, kann sich jeder denken. Einer von denen reist im Moment von einer TV-Talkshow zur anderen. Besorgten Bürgerinnen und Bürgern, Demokraten, spricht der Vorsitzende der Türkischen Gemeinde aus dem Herzen: „Viele Bürger/innen fragen sich, ob ein Wille zur Aufklärung tatsächlich vorhanden ist.“ Schließlich so Kolat, „denn die Bundesregierung redet das Problem des Rassismus klein und versucht die Problematik zu bagatellisieren.“

Wie das geht, machte der Bundesinnenminister am Sonntag bei Jauch wieder einmal deutlich.Die bisherige Arbeit des NSU-Bundestagsausschusses lobte Kolat in seiner Presseerklärung. Sie werde jedoch ständig konterkariert, indem Unterlagen nicht eingereicht oder vorsortiert oder gar verschreddert werden. Kolat: „Ich frage mich, was wäre, wenn wir keinen Untersuchungsausschuss hätten.“

(Zum Thema Rassismus passt auch dieser ältere Artikel.)

Breiter gesellschaftlicher Aufschrei tut not

Ein “Bündnis gegen das Schweigen”, das sich als Reaktion auf das Bekanntwerden der mörderischen Machenschaften der NSU und der noch immer tief aufklaffenden Aufklärungsdefizite gebildet hat, will dem Rassismus-Problem entgegen treten. Das Bündnis postuliert: “Wir haben genug davon! Lasst uns gemeinsam öffentlichen Druck aufbauen!” Zu diesem Behufe ist ein bundesweiter Aktionstag am kommenden Sonntag, den 4. November 2012 geplant.

Vor möglichst allen Landesämtern für Verfassungsschutz oder Innenministerien, aber auch an anderen Orten in größeren Städten will man Kundgebungen organisieren, die der Opfer gedenken, die den von Diskriminierung und Rassismus Betroffenen eine Stimme geben und die das skandalöse Verhalten der deutschen Behörden anprangern. Die Begründung des Bündnisses gegen das Schweigen: Ein breiter gesellschaftlicher Aufschrei als Reaktion auf den Skandal und das Debakel in Sachen NSU-Ermittlung- und Aufklärung sei bisher ausgeblieben.

Weshalb man am 4. November in möglichst vielen Städten ein lautes, vielfältiges und deutliches Zeichen gegen Rassismus und das Versagen staatlicher Institutionen setzen möchte. Hier die Städte, in den denen Aktionen geplant sind.

Dass das Setzen dieses Zeichens dringend geboten ist und endlich gehandelt werden muss, zeigen nicht zuletzt aufschreckende, die NSU-Opfer verhöhnende, jeden Demokraten abstoßende e-Mails hin, die Kenan Kolat erhielt. Aufklärung tut also offensichtlich not. Wird der anvisierte Aufschrei am 4. November in verschiedenen deutschen Städten ein Anstoss dazu sein?

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

asansörpress35

Politischer Mensch, der seit der Schulzeit getrieben ist, schreibend dem Sinn des Lebens auf die Spur zu kommen.

asansörpress35

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