Das andere Bochum

Soziale Stadtführung Wie leben eigentlich unsere Mit-Menschen, die Wohnungslosen? Bei einer "Sozialen Stadtführung" am Samstag in Bochum konnte man eine Ahnung davon bekommen

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Stadtführungen sind für gewöhnlich etwas wobei Guides im Auftrag der Kommunen deren Teilnehmern ihre Sehenswürdigkeiten beziehungsweise das, was sie dafür halten, mit Freude und Stolz präsentieren. Das Ganze wird dann noch mit historischen Daten, Namen großer Gelehrter oder Künstler die mit der Stadt in Beziehung standen oder stehen etc. sowie diversen Anekdötchen angereichert. Stellen und Erscheinungen dagegen im Stadtbild, auf die die jeweiligen Orte keinen Grund haben stolz zu sein, werden dabei so gut es eben geht ausgeblendet. Geht es gar nicht anders, werden schon einmal Erklärungen diesbezüglicher Erscheinungen eingeschoben, um dann möglichst rasch wieder zu den schöneren Seiten der Stadtführung überzugehen.

Das ist in Bochum nicht anders als anderswo

Die Meisten denken gewiss beim Städtenamen Bochum zunächst an Herbert Grönemeyers Liebeserklärung in Liedform "Bochum" und die Zeile "Bochum, ich komm aus dir ..." daraus. In jüngster Zeit womöglich auch an Peer Steinbrück, der angeblich Angela Merkel als Bundeskanzler ablösen will. Weil Steinbrück im Atrium der Bochumer Stadtwerke einen Vortrag gehalten hatte, der - geht man von der mehr als fürstlichen Entlohnung dafür aus - wohl unwahrscheinlich bonfortionös gewesens ein muss. Wenngleich die Ruhrgebietsmetropole Bochum freilich kein Elbflorenz ist, wie die Kunststadt Dresden genannt wird: Bochum, die Bochumer hat/haben Herz.

Menschen können auch jenseits vom Bermuda3Eck ihrer selbst verloren gehen

Nicht nur im "Bermuda3Eck" Bochum, einem Gastronomieareal von zwei Kilometer Ausdehnung mit über 7000 Plätzen, kann ein Mensch seiner selbst verlustig gehen. Andere, viel zu viele Menschen können von derlei Amüsement nicht einmal träumen. Sie leben auf der Straße. Nach einer Schätzung der Bundesabeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAGW) ist die Zahl dieser Menschen in den Jahren von 2010 bis 2012 um 15 Prozent "drastisch" gestiegen. Einer Schätzung der BAGW zufolge lag die Zahl der Wohungslosen in Deutschland im vergangenen Jahr bei 284.000.

Soziale Stadtführung von bodo

Wie leben diese Mitmenschen? Wie verbringen - überstehen - sie den Tag und vor allem: die Nacht? Und wo tun sie das? Welche Hilfsangebote gibt es dafür auf das Beispiel Bochum bezogen? Dem Verein bodo.ev (BochumDortmund), der das gleichnamige Straßenmagazin "bodo" herausgibt, ist es zu verdanken, dass sich interessierte Bürgerinnen und Bürger jeden dritten Samstag im Monat selbst ein Bild von der Stadt Bochum aus der Sicht der "Menschen am Rand" machen können. Am 17. August stand wieder eine "Soziale Stadtführung" an. Für die Freitag-Community nahm ich daran teil. Auf der sozialen Stadtführung zeigen Verkäufer des Straßenmagazins „ihr“ Bochum.

Treffpunkt Stühmeyerstraße 33, Bochum

Nach und nach trudelten die Menschen, die ihre Teilnahme zuvor telefonisch avisiert hatten, um 11 Uhr herum am vereinbartem Treffpunkt an der Bochumer Anlaufstelle des Vereins bodo in der Stühmeyerstraße 33, einem ehemaligen Fabrikgebäude, ein. Diesmal war sogar ein Hund dabei. Die soziale Führung "kostet" 1, 80 Euro. Das ist der Preis für eine Ausgabe des Straßenmagazins bodo. Neunzig Cent davon bekommt der Verkäufer. Stadtführer ist diesmal Verkäufer Markus. Ein Mann, der selbst einmal wohnungslos war und durch bodo wieder auf die Beine und zu einer Wohnstatt gekommen ist. Markus nimmt seine Aufgabe als Stadtführer sehr ernst und beginnt sofort mit seinen einleitenden Worten. Als es einmal unruhig wird, wirft er ein kurzes, aber bestimmtes "Silencium!" in die Runde der Teilnehmerinnen und Teilnehmer - acht Menschen und ein Hund - und er kann in seinem Vortrag ungestört fortfahren.

Markus legt ein forsches Tempo vor. Nachmittag hat er noch eine Verpflichtung in einer Bochumer Kirchengemeinde. Niemand der Tourteilnehmer murrt. Man empfindet die Führung zugleich als eine Möglichkeit sich gewissermaßen sportlich zu betätigen: Man bewegt sich ja eh zu wenig. Auch der Hund, in Menschenjahren gerechnet 40, läuft je weiter es geht aus Sicht der Halter zu ganz ungeahnter Form auf.

Station 1: Beratungsstelle für wohnungslose Männer

Erste Station ist eine Beratungsstelle für wohnungslose Männer unweit der Bochumer Musikschule. Diese so, informiert Markus, wird von der Diakonie betrieben. Die Beratungsstelle ist für Menschen in besonderen Notlagen da. Insbesondere richtet sich deren Angebot an wohnungslose oder von Wohnungslosigkeit bedrohte Männer in Bochum. Ob sie nun Probleme mit Behörden und Ämtern haben, auf der Suche nach einer neuen Wohnung sind, von finanziellen Problemen bzw. Schulden geplagt werden, oder Schwierigkeiten haben, den Alltag zu bewältigen - in der Beratungsstelle versucht man ihnen mit Rat und Tat zur Seite zu stehen. Markus ergänzt: "Die Männer können auch die Adresse der Beratungsstelle als Postadresse angeben. Für Behörden. "Oder," schmunzelt Markus, "für Liebesbriefe. Ja", bekräftigt unser Stadtführer und man kann es sich denken. "Manchmal brauchen auch Wohnungslose Liebe. Vielleicht sogar mehr wie Andere ..."

Drinnen gibt es ein Aufenthaltsbereich, eine Kaffeeküche, eine Waschküche mit Waschmaschine und Trockner, Sanitärräume mit Duschen und WC und eine Kleiderkammer.

Station 2: Bahnhofsmission

Schon geht es weiter. Direkt zum Hauptbahnhof. Neben der Wache der Bundespolizei ein kleines Kabüffchen: Die Bahnhofsmission. Gleich neben dem Eingang links sitzen zwei Klienten und nippen an ihrem Kaffee. Zwei rührige Praktikanten, beides Studenten im Sozialbereich, geben uns profund Auskunft über Sinn und Zweck der Bahnhofsmissionen. Seit mehr als hundert Jahren sind Bahnhofsmissionen für Menschen da, die Hilfe brauchen. "Dort", heisst es in einem kleinen Leporello, den man uns überreicht, "wo Menschen ankommen und doch verloren sind". Umsteigehilfe, Kurzberatung, Hilfevermittlung, Begleitung von allein reisenden Kindern, Hilfe für Menschen mit Handicap und viele andere mehr bieten die Bahnhofsmissionen an. Auch hier wieder trifft man auf Menschen, die wohnungslos sind. Hier gibt es für sie einen Kaffee oder ein Kaltgetränk. Die äußerst engagiert wirkende Praktikantin erwähnt lobend einen türkischen Bäcker, der täglich Brot spendet. Die Deutsche Bahn AG findet insofern Lob, dass sie der Minibahnhofsmission die Räumlichkeit kostenfrei zur Verfügung stellt. Immerhin profitiert sie auch von den diversen Hilfestellungen, welche die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Bahnhofsmission den Reisenden im Bahnhof und an den Gleisen angedeihen lassen. Bahnhofsmissionen, erfahren wir am Rande, sind heutzutage ökumenisch organisiert, d.h. von Katholischer und Evangelischer Kirche getragen.

3. Station: "Sprungbrett" für Jugendliche und junge Erwachsene

Schnell ausschreitend, Markus als Schrittmacher voran, passiert unser Gruppe den Bochumer Hauptbahnhof, "zischt" über den Wochenmarkt am Hinterausgang der Bahnstation, um sogleich die Ferdinandstraße zu überschreiten. Und schon stehen wir vor der noch verschlossenen Tür unsere heutigen dritten Tourstation, dem "Sprungbrett" mit seiner bunten Fassade. Uns wird von einer Sozialarbeiterin aufgetan, die in dieser Einrichtung bereits über zehn Jahre tätig ist. Das "Sprungbrett" hat seine Heimstatt in einer ehemaligen Kneipe. Es ist Anlaufpunkt für Jugendliche und junge Erwachsene. Diese Zielgruppe erhält hier bei Stress mit den Eltern, der Schule, in der Ausbildung, Drogenproblemen, Schwierigkeiten rund ums Wohnen und bei Ärger mit Ämtern Beratuung. Es gibt Essen. Eine Ehrenamtliche kocht gerne für die jungen Leute und die nehmen es gerne an. Die Renner sind Bohnen und Erbsensuppe, hören wir. "Viele kennen das von zu Hause gar nicht mehr." Wie alle bisherigen Hilfs- und Beratungsstellen begreift sich auch das "Sprungbrett" als niedrigschwellig. Hier geht es transparent und verschwiegen zu. Nach dem Motto: "Nicht wir entscheiden, sondern Du." Kontakt mit den Jugendlichen wird nur auf deren Wunsch aufgenommen. Wenn sie es möchten, können sie auch anonym bleiben.

Besorgniserregend sei es, so die symphatische Sozialarbeiterin, die auch nach mehr als zehn Jahren noch mit Herz und Seele dabei ist, dass man verstärkt feststelle, dass immer mehr Jugendliche psychische Störungen haben. Ob dafür der zunehmende Gebrauch von Computern, Internet, sozialen Netzwerken und Co. verantwortlich ist, wie die Mitarbeiterin vermutet, könne man bisher nur vermuten. Hinsichtlich dessen ist ein penionsierter Neurologe für das "Sprungbrett" ein Glücksfall. Der schaut ab und an - oder eigens herbeigerufen - vorbei und hilft, wo er kann. Auch ein Rechtsanwalt steht bei Bedarf und kniffligen juristischen Angelegenheiten zur Verfügung. Es ist gemütlich im "Sprungbrett". Bunt und muckelig. Ein Billiardtisch gibt es auch. Hier können die jungen Leute "chillen", wie das heute heisst. Sie werden in Ruhe gelassen. Alkohol und Drogen sind tabu. Gibt es Streit, müssen die Streihähne gehen. Wie wir hören, kommt das aber selten vor. Die Klientel weiß die Einrichtung zu schätzen.

4. Station: Schlaf am Zug

Und schon wieder geht weiter auf Bochums Straßen. Diesmal in Richtung Ruhrstadion. Hinter einer Bahnüberführung heisst es für uns, schon etwas fußmüde geworden, eine steile Treppe zu erklimmen. Der Hund ist sichtlich in Hochform. Er ist vor uns allen droben. Am Ende der Gasse in Sichtweite eines Krankenhauses stehen wir schon bald vor einem orangefarbenen bungalwoähnlichen Gebäude. Neben verschlossenen Tür ein blaues Schild mit der weißen Aufschrift "Schlafen am Zug". Das leuchtet ein: Kaum einen Steinwurf entfernt verlaufen die Bahnschienen. Markus informiert, dass die Notschlafstelle „Schlaf am Zug“ Jungen und Mädchen im Alter zwischen 14 und 21 Jahren ohne Obdach nächtens aufnimmt.

Ein Ehrenamtlicher von bodo, der unser Begleiter ist, pflicht etwas ein. Markus aber ist keiner, der sich die (Stadtfüher-)Butter vom Brot nehmen lässt. Nach einer kleinen Ermahnung hält Markus, der seine Aufgabe sichtlich mit hohem Engagement wahrnimmt, die Zügel wieder fest in der Hand. Schmunzeln und nickende Zustimmung aus der Gruppe.
Die Jugendlichen können bis zu zehn Tage am Stück den "Schlaf am Zug" geniessen. Am vierten Tage jedoch sind sie zu einem Aufnahmegespräch verpflichtet, in dem sie auch über ihre Situation und Probleme reden. Dazu gehört es auch, seine Identität zu offenbaren. Wer das nicht möchte, muss gehen, kann aber ein anderes Mal wieder kommen. Die Einrichtung hat durchaus kleine Erfolge zu verzeichnen. Von hier aus können sich Jugendliche auch mit ihren Eltern verständigen und einen Ausgleich suchen. Kleine Erfolge sind indes besser als gar keine.

5. Station: Suppenküche

Die Notunterkunft für Wohnungslose spart Markus (der Kirchentermin am Nachmittag) heute aus. Unsere schon etwas lahm gewordenen Füsse danken es uns. Und abermals heisst Kilometer machen auf Bochums Pflaster. Dann schließt sich der Kreis: Wir sind wieder am Ausgangspunkt in der Stühmeyer Straße 33 angelangt. Genauer eine Tür weiter. Dahinter befindet sich die Suppenküche. Unter diesem Dach gibt aber auch Frühstück. Bezüglich der Zuständigkeiten und Trägerschaften sind wir wohl alle ein wenig verwirrt. Nur Tourteilnehmer Martin bringt es aber dann zum Ausdruck. Wir erfahren, hier ist die Caritas tätig wie auch der gemeinnützige Verein Bochumer Suppenküche e.V. - beiden Einrichtungen ist zu eigen: sie helfen jeder auf seine Weise Bedürftigen. Und zwar ebenfalls niedrigschwellig.

Die nette Dame an der Ausgabe verweist darauf, dass die Einrichtung längst nicht nur von Wohnungslosen aufgesucht werde. Es sind auch Leute dabei, die eine Wohnung haben. Die entweder bedürftig, einsam oder beides zusammen sind. Ausweisen muss ich jedoch niemand. 140 Menschen kommen nach eignen Angaben durchschnittlich in die Einrichtung.

Zurück in der Bochumer Anlaufstelle des Vereins bodo

Schlussendlich schlurfen wir mit mehr oder weniger bleischweren Füßen wieder an den großen Tisch in der Bochumer Anlaufstelle von bodo. Dort sinken wir auf die Stühle, um Markus Schlussworten zu lauschen. Niemand schwatzt. Dem Hund hängst die Zunge heraus. Ermahnungen kann sich Markus deshalb sparen. Dann erklingen Dankesworte. Applaus folgt. Beides gilt Markus unserem Stadtführer dieser ganz besonderen Tour an diesem Augustsamstag. Einem Manne, der am eigenen Leib und eigner Seele erfahren musste, was Wohnungslosigkeit bedeutet. Auch, wenn es ihm erspart blieb "Platte" zu machen (auf der Straße schlafen).

Niemand von uns möchte die eine oder andere Erfahrung machen müssen. Aber die Zeiten sind so, dass so etwas immer im Hintergrunde droht. Die Schere zwischen Arm und Reich öffnet sich beständig. Leider. Um die 284.000 Wohnungslose gibt es in Deutschland. Jeder einzelne davon ist ein Wohnungsloser zuviel. Es könnten künftig noch mehr werden. Es gibt Fachleute, die vor einer steigenden Wohungsnot in Deutschland warnen. Immer mehr Menschen können sich die Miete nur noch schwer oder gar nicht mehr leisten. Hartz-IV-Betroffene und prekär Beschäftigte stehen am Rande unserer Gesellschaft. Am Rande unsere Gesellschaft und doch mitten in ihr wandelten wir am Samstag unter Straßenzeitungsverkäufer Markus' Führung, indem wir über Bochums Straßen wandelten.

Fazit

Wie leben unsere Mitmenschen, die Wohnungslosen? Wie verbringen - überstehen - sie den Tag und vor allem: die Nacht? Und wo tun sie das? Welche Hilfsangebote gibt es dafür auf das Beispiel Bochum bezogen? Wir haben an diesem Samstag eine Ahnung davon bekommen. Mehr nicht. Es war eine Erfahrung, die unter die Haut ging. Sehenswürdigkeiten haben wir indes nicht gesehen. Wir hatten ja auch etwas anderes "gebucht". Keine Sightseeing-Tour. Sondern dem völlig konträr: eine "Soziale Stadtführung". Wir sahen das andere Bochum. Manche, denen wir davon erzählen, werden vielleicht sagen: Verrückt! Ja, müsste man ihnen antworten: Ver-rückt!

Fotos von der Stadtführung hier

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Geschrieben von

asansörpress35

Politischer Mensch, der seit der Schulzeit getrieben ist, schreibend dem Sinn des Lebens auf die Spur zu kommen.

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