Der Aufschwung und das Nichtmehr

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Endlich geht es looohooos! Die Wirtschaft rattert und brummt. Und bald boomt und beamt sie einen Aufschwung herbei, dass uns allen das Hören und Sehen vergehen wird. Den Minister der Wirtschaft, Rainer Brüderle (FDP), macht das offenbar geradezu besoffen. Dabei hatte er sich doch noch gar Keinen eingeschenkt! Hurra, der Aufschwung ist da. Dem Mann der Wirtschaft wuchsen geradezu unsichtbare Flügel. Aufschwung! XXL! Nach Brüderles Lesart gar einer "nach dem Lehrbuch"! Von den vom DIHK übermittelten Daten offenbar schon dermaßen beschwipst, wie sonst nur nach einer zünftigen Weinprobe mit der örtlichen rotwangigen Weinkönigin auf dem Schoß, verkündete Brüderle nun völlig enthemmt:

Der deutsche Arbeitsmarkt hätte sich vom Sorgenkind zum Musterschüler [sic!] entwickelt. Fast unwidersprochen durfte FDP-Brüderle dies behaupten. Immerhin hält ihm Wolfgang Lieb von den NachDenkSeiten (NDS) via seines Beitrags "Die schöne neue Welt des DIHK und des Wirtschaftsministers" entgegen, "wie es auf diesem Arbeitsmarkt tatsächlich aussieht. Nämlich, dass z. B. jeder fünfte Arbeitnehmer für einen Stundenlohn unterhalb der Niedriglohnschwelle arbeitet. Dass mehr als ein Viertel aller unter 35-Jährigen bisher ausschließlich befristet beschäftigt war und mehr als die Hälfte aller Erwerbstätigen bis zu 24 Jahren befristet oder in Leiharbeit beschäftigt wird. Dass im Juli 2010 die Leiharbeit 826.000 einen neuen Spitzenwert erreichte. "So", schreibt Lieb auf den NDS weiter, "sieht also ein Musterschüler für Brüderle aus."

Unternehmerlogik

Und die Mainstream-Medien plappern Brüderles Schöngelalle der Realität nahezu unisono nach. Dabei könnten (und müssten! ) sie es besser wissen und als die sogenannte Vierte Gewalt entlarven, dass sowohl die Zahlen des DIHK als auch die von Rainer Brüderle daraus gezogenen (oder abgeschriebenen?) Schlüsse, reiner Unternehmerlogik entsprechen. Von daher mögen sie richtig sein. Was nicht heißen muss, dass der womöglich beim Nahen der nächsten Krise schon wieder rasch einbrechende - seitens der deutschen Exportwirtschaft schmarotzerisch und mehrheitlich zu Lasten der Volkswirtschaften anderer Länder erreichte - Aufschwung, einer ist, von dem die Gesellschaft insgesamt profitiert. Was allein schon deshalb nicht der Fall ist, da hierzulande noch immer keine Ankurbelung der darnieder liegenden Binnenkonjunktur ins Werk gesetzt wurde. Stattdessen betreibt die Bundesregierung eine verheerende Sparpolitik, die sie zu allen Überfluss auch noch anderen EU-Ländern aufdrücken möchte. Schlimmste Blüten treibt eine solche Austeritätspolitik momentan in Großbritanien. Von hundertausende Stellen im öffentlichen Dienst gestrichen werden sollen. Von neo- oder ordoliberalistischen Ideen nicht verseuchte (bzw. davon geheilte) Ökonomen sehen diese Entwicklung äußerst kritisch. Sie fühlen sich an die Politik von Brüning errinnert. Und warnen nicht nur vor den möglichen schlimmen Folgen für die auf Sparpolitik (und Schuldenbremsen wie z. B. die BRD) setzenden Länder selbst, sondern vor einer schwerwiegenden Katastrophe für die EU insgesamt. Auch der US-Ökonom Krugman wird nicht müde das zu tun. Erst kürzlich kritisierte er während eines Vortrags in Deutschland zum wiederholten Male die seiner Meinung nach falsche Sparpolitik der Bundesregierung. Doch bei den in Berlin politisch Verantwortlichen stieß er auch diesmal wieder auf taube Ohren. Von anderer Seite erntete Krugman sogar Hohn und Spott für seine Kritik.

Rainer Brüderle, in dem Wolfgang Lieb von den NDS eigentlich eher einen "Unternehmerminister", denn einen Wirtschaftsminister sieht, verhöhnt die Arbeitnehmer ebenfalls. Oder wie sonst soll man das bezeichnen, wenn er ohne dabei rot zu werden tatsächlich behauptet, dass sich der von ihm verkündete Aufschwung auch im Geldbeutel der Arbeitnehmer auszahlen solle?

Cosi fan tutte - So machen's alle

Die Betroffenen erleben es seit Jahren - wenn nicht seit 2 Jahrzehnten - anders. Nicht aus heiteren Himmel heraus herrscht Politik(er)verdrossenheit. Und das liegt nicht etwa daran, dass die herrschende Politik die Menschen - wie es immer so schön heißt- nicht richtig mitgenommen hat. Die nämlich sind unterdessen derart von dieser neoliberalen Klientelpolitik mitgenommen, dass sie sich zunehmend verschaukelt fühlen. Nicht zuletzt sind die von breiten Bevölkerungsschichten getragenen Proteste gegen das Stuttgarter Bahnhofsprojekt S 21 vielleicht nur ein wichtiger Indikator dafür, dass hierzulande längst ein senibler Punkt erreicht (wenn nicht gar schon überschritten) ist. Wenn dem so ist, dann zeigt dieser uns an: Immer mehr Menschen haben ein Problem mit dem Zustand unserer Demokratie. Sie fühlen sich von manchen wie Parallelgesellschaften agierende Parteien als bloßes Stimmvieh missbraucht. Sind Parteien dann einmal an der Macht, glauben sie mit dieser ganz nach Gutdünken verfahren zu können. Sie handeln immer öfters nur noch im Interesse der Wirtschaft. Dem Volk in Gänze dienen sie nicht. Sie sind dann aber auch keine Volksparteien mehr, sondern "Unternehmerparteien" - wie Brüderle eben als "Unternehmerminister" agiert - und betreiben schamlos vorwiegend Klientelpolitik. Obwohl sie doch dem ganzen Volke und dessem Wohl und Wehe verpflichtet sind. Politiker wie Ministerpräsident Mappus sind ein Beispiel dafür. In diesem Geiste sind sie in der Politik offenbar groß geworden und in Folge dessen auch bis zur Macht vorgestoßen. Deshalb können sie offenbar auch gar nichts Negatives an ihrem Tun erkennen. Warum auch? So machen's doch alle: Cosi fan tutte!

Wo leben wir eigentlich?

Immer mehr Menschen sind darob ungehalten. Gewiß sind sie keine Fortschritts- oder Technikfeinde, wie mancher Politiker es uns im Hinblick auf die S 21-Proteste weismachen möchte, um die Protestler zu diffamieren. Auch haben die Leute nichts dagegen, dass die Wirtschaft Profite macht. Nur zu! Doch wird eben immer mehr sicht- und ruchbar, dass diese steigenden Gewinne (Aufschwung!) immer weniger der Gesellschaft zugute kommen, sondern in den Taschen von Aktionären oder dunklen Kanälen versickern. Während gleichzeitig und ohne groß mit der Wimper zu zucken Millionen von Steuergeldern für Bankenbürgschaften bereitgestellt werden oder für Subventionen von Unternehmen und Unternehmern ausgegeben werden müssen, die ihren prekär Beschäftigten so geringe Löhne zahlen, dass diese staatlicherseits aufgestockt werden müssen. Wo leben wir eigentlich? Dies fragen sich immer mehr Leute in diesem unserem Lande. Lange - auch das stimmt - mögen viele von ihnen mehrheitlich taub und blind durch die Gesellschaft gegangen sein. Sie waren ja auch stets satt, hatten zwei Autos, oder fuhren zweimal in Jahr in den Urlaub. All das steht nun immer öfters auf der Kippe. In der sogenannten Mittelschicht herrscht Heulen und Zähneklappern. Wer sich früher noch Hoffnungen gemacht hatte, von da aus nach oben aufzusteigen, um irgendwie ein bisschen wie die das Oben zu werden, konnte durchaus auf die Erfüllung seiner Träume - wenigsten im gewissen Maße - rechnen. Nun wartet auf viele Mittelschichtler immer öfters Hartz-IV. Und damit der Abgrund, aus dem man kaum jemals wieder heraus kommt. Mag Frau von der Leyen bei Will, Maischberger oder Illner auch 'was ganz anderes erzählen. Womöglich glaubt sie - es liegt sehr nahe - auch an den Klapperstorch!

Leiten die S21-Proteste einen Paradigmenwechsel ein? Immerhin wacht mithin mancheiner unserer Landsleute offenbar jetzt auf. Bekommt die an vielen Ecken beschädigte oder missbrauchte Demokratie hierzulande endlich die dringend benötigte Sauerstoffzufuhr von unten? Naht gar eine revolutionäre Situation? Lenin spottete ja einst über die Deutschen. Sie, meinte er sinngemäß, kauften sich bestimmt erst eine Bahnsteigkarte, ehe sie Revolution machten. Aber jetzt sind die Bahnsteigkarten ja abgeschafft (dass Mehdorn sie nicht wieder einführte, wundert einen nachträglich). Also: Freie Fahrt!? Man wird sehen. Frei nach Lenin steht sozusagen eine Revolution vor der Tür, wenn die Oben nicht mehr können und die Unten nicht mehr wollen. Soviel wissen wir: Die Oben können(es) nicht. Dass macht uns Schwarz-Gelb fast jeden Tag aufs Neue vor. Sie können höchstens für die, die wirklich Oben sind: Kapital und Wirtschaft. Immer mehr Menschen da Unten wollen das dagegen nicht mehr. Begreifen sie doch: die Grundfesten der Demokratie und die Lebensgrundlagen von immer mehr Menschen werden so zerstört. Aber: erst wenn das Nichtmehr Oben wie Unten an seine Grenzen gekommen sein wird, können die Verhältnisse wirklich in eine andere Qualität umschlagen. - Vorerst brummt und grummelt es nur im Gesellschaftsgefüge. Leute wie Brüderle mögen das Gebrumm für das Geräusch des Auschwungs halten. Na, wenn er sich da mal nicht täuscht...

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Geschrieben von

asansörpress35

Politischer Mensch, der seit der Schulzeit getrieben ist, schreibend dem Sinn des Lebens auf die Spur zu kommen.

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