Die parlamentarische Demokratie in der Krise

Leseempfehlung Das zur pad-Reihe „Ökonomisches Alphabetisierungsprogramm“ gehörende Heft von Ekkehard Lieberam sollte unbedingt in die heimische Bibliothek aufgenommen werden.

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Es ist hochinteressant und gleichermaßen wohltuend in dieser Veröffentlichung die Entwicklungen der Demokratie und die unterschiedlichen Ansätze zu deren Gestaltung (einschließlich der dabei auftauchende Probleme und Fehlschläge) im Rahmen der geschichtlichen Entwicklung noch einmal aufgefrischt und interpretiert zu bekommen. Zumal dies historisch wie fachlich kompetent und in einer Form geschieht, die es sehr vielen Leserinnen und Lesern unterschiedlichster Schichten und unterschiedlichen Bildungsstandes ermöglichen dürfte, persönlichen Gewinn aus dieser Publikation zu ziehen.

Die deutsche Schriftstellerin und Juristin Dr. Juli Zeh indes nimmt an, dass man sich nie ernsthaft Gedanken gemacht habe, weshalb denn Demokratie besser funktioniere als andere Staatsformen:

Die Begründung für die Alternativlosigkeit der Demokratie kam nie über die Bemerkung hinaus, dass Demokratie die schlechteste unter aller Staatsformen sei – abgesehen von sämtlichen anderen. Trotz nachlassenden Interesses der Bürger an der Politik wagte niemand den Gedanken, dass die Demokratie sich überlebt habe, dass die Politikverdrossenheit kein vorübergehendes Phänomen, sondern ein Zeichen dafür sei, dass der Wille aufhörte, vom Volke auszugehen.(Juli Zeh, “Alles auf dem Rasen: kein Roman”, Schöffling, Frankfurt am Main 2006, S.167, zitiert nach: wikiquote)

Demokratie ja, aber …

Wie auch immer: Vielleicht gehören die meisten von uns – trotz aller in praxi offen zutage tretenden Mängel der Demokratie – dennoch zu denjenigen, welcher dieser Staatsform weiterhin den Vorzug geben. Wachen Auges müssten wir dann jedoch festgestellt haben, dass politische Entscheidungen längst zunehmend unter dem Einfluß der Wirtschaft – allen voran: der Finanzwirtschaft (namentlich den „Märkten“) – prompt nach deren gusto getroffen werden. Fraglos: Die Demokratie ist in der Krise. Und zwar wortwörtlich! Als alternativlos werden uns da sogar Regierungen (in Italien) bzw. Regierungschefs ( Italien: Mario Monti; Griechenland: Loukas Papadimos) „verkauft“, die nicht einmal demokratisch ins Amt gewählt wurden. Schlimmer noch: mit Goldman Sachs verbunden waren. Einem Unternehmen, welche aktiv dabei half, die griechische Misere zu verschleiern!

Die Veröffentlichung und ihr Autor

Ekkehard Lieberam, „Autor und Mitautor zahlreicher Bücher, Schriften und Artikel zum Parteiensystem der Bundesrepublik, zur Regierbarkeit, zu den politischen Systemen der DDR, der USA, Englands, Frankreichs und der BRD, zur Prekarität, zur Dritten Großen Depression und zur Klassenanalyse“ (Quelle: pad-Verlag Bergkamen), hat einen Beitrag im Rahmen des pad-Projektes „Ökonomisches Alphabetisierungsprogramm“ (erscheint in Zusammenarbeit mit Labournet) zur Veröffentlichung vorgelegt. Der Titel: „Krise und Manövrierfähigkeit der parlamentarischen Demokratie“

Wir erfahren: zum Thema Demokratie sind bislang mehr als 10.000 Bücher erschienen

Derweil das Wort Demokratie „etwa 2.500 Jahre alt“, fraglos aber „hochaktuell“ ist. Dass Ekkehard Lieberam den geneigten Leser zunächst sozusagen mit auf einen kleinen Ausflug in die Geschichte der „Demokratie als Herrschaftsform und als Selbstbestimmung“ (die erste von insgesamt sieben Thesen rund um die Demokratie in dieser Publikation), werde jene gewiss nicht als Belehrung begreifen, sondern als Bereicherung bzw. Auffrischung von einmal an Wissen Aufgenommenem empfinden. Wir alle wissen, wie es mit anderen Begriffen so geht, die uns anscheinend in Fleisch und Blut übergegangen sind. Und wir sie – ohne sie noch großartig zu hinterfragen – benutzen. Wir meinen sie also zu kennen. Aber können wir deren Herkunft und Bedeutung wirklich erklären?

Demokratie als Regierungsform (S. 6), hilft uns Ekkehard Lieberam geschichtlich auf die Sprünge, „aber auch als Begriff, demokratia = Herrschaft (kratia) des einfachen Volkes (demos), begann auf der Halbinsel Attika. Die attische Demokratie für Athen und das umliegende Gebiet entstand im Jahre 461 v. u. Z. und hatte etwa 130 Jahre Bestand (…)“ Modifizierungen und Einschränkungen machten dann Anknüpfungsmöglichkeiten in späteren Gesellschaften möglich. Aufbauen darauf konnten die Theoretiker der Aufklärung. Menschenrechte, Gewaltenteilung, Machtbegrenzung und Volkssouveränität wurde im Kampf gegen den Feudaladel formuliert. Lieberam weist auf den 1762 erschienenen Gesellschaftsvertrag von Jean Jaques Rousseau, darin es heißt: „Das Volk ist der Souverän; sobald ein Herrscher da ist, gibt es keinen Souverän mehr.“

Karl Marx und Friedrich Engels begründeten im Rahmen ihrer materialistischen Geschichtsauffassung „eine kopernikanische Wende im Demokratiedenken“ (2. These; S.9)

Jedoch kam es in ihrem Denken und dem Denken ihrer Schüler (Lenin, Rosa Luxemburg, Antonio Gramsci, Wolfgang Abendroth, Johannes Agnoli und Uwe-Jens Heuer) „immer wieder zu einem Überdenken bisheriger Vorstellungen über Demokratie“.

Es ist hochinteressant und gleichermaßen wohltuend in dieser Veröffentlichung die Entwicklungen der Demokratie und die unterschiedlichen Ansätze zu deren Gestaltung (einschließlich der dabei auftauchende Probleme und Fehlschläge) im Rahmen der geschichtlichen Entwicklung noch einmal aufgefrischt und interpretiert zu bekommen. Zumal dies historisch wie fachlich kompetent und in einer Form geschieht, die es sehr vielen Leserinnen und Lesern unterschiedlichster Schichten und unterschiedlichen Bildungsstandes ermöglichen dürfte, persönlichen Gewinn aus dieser Publikation zu ziehen.

Revolutionäre Umwälzungen und „Korrekturen“

Hier wollen wir einen Sprung machen und einen Blick auf die Entwicklung der parlamentarischen Demokratie werfen (3. These; S. 20 oben). Wir werden darin erinnert, dass der Siegeszug der parlamentarischen Demokratie nach dem Ersten Weltkrieg „vor allem das Ergebnis der revolutionären Umwälzungen in dessen Gefolge“ war. Ebenso daran, dass diese positiven (aber auch Fehler behafteten Demokratieverwirklichungen) – nicht zuletzt wegen mangelnder innere Verteidigung der Demokratie seitens breiter Bevölkerungsschichten – „korrigiert werden“ sollten. „Korrekturen“, die faschistische Regime möglich werden ließ und in die schrecklichen Katastrophe des Zweiten Weltkriegs führte.

Praktische Anpassungspolitik im Sinne der Kapitalinteressen“

Betrachten wir die Entwicklung nach 1945, könnten wir zu dem Schluss gelangen, die Völker hätten ihre geschichtlichen Lehren daraus gezogen. Setzte nun ein Siegeszug der Demokratie ein? Ekkehard Lieberam meint, nach dem Zweiten Weltkrieg hätten sich jedoch „eine Reihe von Tendenzen, die bereits im 19. Jahrhundert, mehr oder weniger deutlich in Frankreich, Deutschland, England und den USA,“ verfestigt, „erkennbar waren: Die herrschende Klasse war bemüht, das nunmehr fast überall geltende allgemeine Wahlrecht auch für Frauen so zu gestalten, das es genehme Regierungen hervorbrachte.“ Daran änderten nicht einmal sozialdemokratische Parteien, die – so Lieberam – „ungeachtet eines rhetorischen Antikapitalismus als Regierungsparteien, beginnend 1919 in Deutschland und 1924 in England, fast überall praktische Anpassungspolitik im Sinne der Kapitalinteressen“ betrieben (Seite 21, Mitte).

Nichts neues im Westen!, mag es einen da an dieser Stelle vielleicht durchfahren. Und unweigerlich kommen einen da „Spezialdemokraten“ wie Tony Blair (Großbritannien) und Gerhard Schröder (BRD) in den Sinn, die die Interessen des Kapitals bekanntlich besonders eifrig bedienten!

Ist es dem Kapital also egal, wer unter ihm regiert?

Wenn einem dieser Gedanke beim Lesen des Büchleins von Ekkehard Lieberam durch den Kopf schießt, ist man auch nicht weit von dem hier: “Wenn Wahlen etwas verändern würden, wären sie verboten…” (Kurt Tucholsky) Und diesen Satz benicken vielleicht längst auch viele, die die für sie einst so hoffnungsvolle Entwicklung der grünen Partei hierzulande von der Protestpartei mit hehren Zielen hin zu „Spezialdemokraten“ mit ökologischen Anstrich miterleben mussten. Mit einem Jürgen Trittin an Bord, der gewiss neuerliche Bundesminister-Ambitionen hegt und deswegen (?) selbst den Weg zu den Bilderbergern nicht scheute. Und folgt den Grünen nach dem Fahrenlassen einstiger Ideale und so erreichter Kapitalkonformität bald eine regierungsrund geschliffene Partei DIE LINKE auf dem Fuße? Dieses Denken zöge den fatalen Schluss nach sich, das Kapital werde auf lange Sicht immer nur eine Regierung unter sich dulden, die dessen Interessen nicht schade!

Lieberam weist (S. 23) auch daraufhin, dass (wie die deutsche Entwicklung nach 1920 zeigt) das stets anpassungsfähige Kapital auch mit dem Faschismus leben konnte. Der Autor: „Dem Faschismus geht es stets um antikapitalistische Mimikry, um eine besonderen Form der indirekten Verteidigung des Kapitalismus.“ Dagegen, zitiert Ekkehard Lieberam Wolfgang Abendroth („Ein Leben in der Arbeiterbewegung, 1976), helfe nur „das machtvolle und geschlossene Auftreten der Arbeiterklasse (…)“ Nur wissen wir freilich auch, dass „die Arbeiterklasse“, die „sich zu einer wirkungsvollen Alternative gegen die monopolkapitalistischen Herrschaft entwickelt“ heute so nicht mehr existiert. Und die Linke ist – wieder einmal – zersplittert.

Lieberam verweist hochaktuell auf die Entwicklung in Griechenland

Lieberam lässt uns aber erkennen: die Gefahren (Faschismus, Demokratie-Zerstörung) sind auch heute vorhanden. Und wir werden mit dem aufgeführtem Beispiel Chile (Militärputsch 1973) darauf gestoßen wie es einen Sozialisten gehen kann, will er die kapitalistische Gesellschaft auf demokratischem Wege im Regierungsamt gerechter gestalten. Lieberam verweist da hochaktuell auf die Entwicklung in Griechenland (am 17. Juni sind dort Wahlen, die die linke Syriza gewinnen könnte). „Mit der sich verschärfenden, strukturell bedingten Weltwirtschafts- und Weltfinanzkrise und deren Auswirkungen in Gestalt von z.T. erheblicher politischer Instabilität in einigen kapitalistischen Staaten nimmt diese Gefahr (faschistische Diktatur oder Militärputsch; C.-D. Stille) erneut zu.“ (S. 24)

Parlamentarische Demokratie beste „Hülle“ der Kapitalherrschaft

Ekkehard Lieberam schreibt den Lesern ins Gewissen, dass die parlamentarische Demokratie im Sinne von Lenin immer offensichtlicher tatsächlich als beste „Hülle“ der Kapitalherrschaft erwies. Sofern „die Vertreter des Kapitals in ihr das Sagen hatten“. (S. 25) So sei auch in der Systemauseinandersetzung zwischen Kapitalismus und Sozialismus, „die für viele glaubhaft als weltgeschichtliches Ringen für Demokratie und gegen Diktatur dargestellt werden konnte.“ Welche vor allem sozialen Auswirkungen die „verbreitete emotional untersetzte Parteinahme für den als Demokratie daher kommenden Kapitalismus“ zeitigte, kann an den Entwicklungen der postsozialistischen Länder Osteuropas – oder leicht gedämpft – auch Ostdeutschlands studiert werden. Es geht um die Transformation der Demokratie (4. These; S. 25 ff). Diesbezüglich verweist Lieberam auf „linke bürgerliche Politikwissenschaftler wie Maurice Duverger: „Regierung, Ministerialbürokratie und die Manager der großen Konzerne bilden eine herrschende Oligarchie, in deren Händen die Gesetzgebung und die Staatspolitik liegen. Auch ein Wechsel der Regierung nach Wahlen ändert daran in aller Regel nichts. Viele Institutionen der Exekutive arbeiten im Übrigen außerhalb der Reichweite der parlamentarischen Institutionen. In den meisten kapitalistischen Ländern werden die Parteien austauschbar (…)“

Wieder zuckt man als Leser auf: Hier ist die Rede von der unmittelbaren Gegenwart! Sind das nicht auch Zustände, die der englische Politikwissenschaftler und Soziologe Colin Crouch unter dem Begriff „Postdemokratie“ beschreibt? Da vermag einen kaum dessen wiedergegebene Ansicht beruhigen, wonach dieser „Prozess noch nicht abgeschlossen sei“.

Ekkehard Lieberam: notwendig ist „ein Klassenprojekt von links, dass der neobliberalen Kapitaloffensive entgegengesetzt wird,

… die verschiedene Fraktionen, Gruppen und Segmente der arbeitenden Klasse zusammenführt und in dem die antikapitalistische Linke sagt, was ihre Ziele und Forderungen sind.“ Ein Einwand sei hier angebracht: Was ist mit nicht (mehr) arbeitenden, von der Gesellschaft „abgehängten“ Menschen, den Rentnerinnen und Rentnern u.s.w.? Der „Arbeiterklasse“ fehlt es inzwischen an Masse und infolgedessen an (früherer) das Kapital durchaus beeindruckender Macht. Die „Abgehängten“ sind dank den „Reformen“ von Rot-Grün von Angst in Schach gehalten. Die anfangs großen Anti-Hartz-IV-Demos hat man kalt ins Leere laufen lassen. Niedergeschmettert ertragen die auch noch via Medien und Politikern Gedemütigten lieber zuhause ihr trauriges Los. Den verbliebenen Arbeitplatzinhabern sind sie Warnsignal genug, um sich mit dem zufrieden zu geben, was man ihnen ließ. Diese Menschen, Bürgerbewegungen, soziale Netzwerke – nicht zuletzt die Occupy-Bewegten – müssen bei diesem die neoliberalen attackieren sollendem Klassenprojekt mit gedacht und mitgenommen werden. Richtig ist ohne Zweifel das von Lieberam zuletzt notierte: „Es muss ein Übergangsprogramm beinhalten, das die Vergesellschaftung der Banken, der Energiekonzerne, der Unternehmen der Daseinsvorsorge und der Schlüsselindustrien fordert, überhaupt die Demokratisierung der Wirtschaft“.

Unbedingt auch zu empfehlen sind die angehängten Seiten unter der Überschrift „Demokratiebegriffe und Demokratiekonzepte“ mit vielen wichtigen Zitaten zum Thema und Auszügen aus verschiedenen Verfassungen.

Unbedingt in die heimische Bibliothek!

Das zur pad-Reihe „Ökonomisches Alphabetisierungsprogramm“ gehörende Heft von Ekkehard Lieberam sollte unbedingt in die heimische Bibliothek aufgenommen werden. Es hilft neben den anderen dort verlegten gut lesbaren Publikationen dieser Reihe ungemein den Kapitalismus als Krisen immanentes System verstehen. Noch dazu in der schwerwiegenden, seit dem Jahre 2008 sich aufgrund falscher Rezepte dagegen mehr und mehr hochschaukelnden Krise, die uns und unsere Demokratie längst dicht an den Abgrund geführt hat. Wenn es denn zum Schwure kommt, können darin auch auf der Suche nach Alternativen fündig werden. Denn: alternativ los ist wenig auf dieser Welt. Nicht einmal der Kapitalismus, der uns allerdings wohl noch länger erhalten bleiben dürfte. Was man jedoch von unsere Demokratie nicht unbedingt sagen kann, betrachtet man deren Entwicklung. Mit besonderen Blick auf die von Lieberam behandelte parlamentarische Demokratie. Spätestens jetzt sollten wir uns wieder an Winston Churchills Aussage erinnern: siehe Anfang!

Das Buch:

Ekkehard Lieberam

Krise und Manövrierfähigkeit der parlamentarischen Demokratie“

74 Seiten, 5 Euro inklusive Versand

Bezug: pad-verlag@gmx.ne

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Geschrieben von

asansörpress35

Politischer Mensch, der seit der Schulzeit getrieben ist, schreibend dem Sinn des Lebens auf die Spur zu kommen.

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